Dattans Erbe. Nancy Aris
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Siegfried Bornecker hielt inne.
„Warum erzähle ich Ihnen das, Anna?“ Er schaute mich eindringlich und auffordernd an. Doch ich wollte nichts sagen, sondern einfach nur zuhören. Deshalb zuckte ich bloß mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht.
„Weil Gori etwas hatte, worum es uns hier und heute geht. Wissen Sie, was ich zwischen dem ganzen Schriftkram, den er gehortet hatte, fand?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Tagebuchnotizen von meinem Großvater. Er hatte in der Verbannung Tagebuch geschrieben. Es waren keine hastigen Notizen, handschriftlich mit dem Bleistift gekritzelt, sondern ausführliche Reflexionen, säuberlich mit der Schreibmaschine getippt. Darunter auch die Blätter, die ich bereits von Albers erhalten hatte und nicht einordnen konnte. Nun wusste ich, was es damit auf sich hatte. Diese Notizen hatten ein Deckblatt. Und nur wegen dieser einen Seite sitzen wir heute hier zusammen.“
Ich grübelte, was auf dieser einen Seite gestanden haben mochte. Es musste etwas gewesen sein, das nun von außerordentlicher Bedeutung war. Was steht auf so einem Deckblatt? Der Name, vielleicht auch noch Ort und Zeitpunkt der Aufzeichnung. Was sollte daran also so besonders, so außergewöhnlich sein? Bornecker wusste doch, wo sein Großvater in der Verbannung gesteckt hatte. Auch den Zeitraum hatte er mir genannt. Was also bewegte ihn so dermaßen?
Dann holte er dieses eine, dieses wichtige Blatt aus einer Mappe und legte es vor mir auf den Tisch. Ich schaute auf das Blatt und Bornecker beobachtete mich dabei ganz genau. Und auf einmal war mir klar, dass das die Prüfung war. Das, was ich nun sagen würde, entschied darüber, ob ich den Auftrag erhielt oder nicht. Ich las:
A. Dattan
MEINE VERBANNUNG IN DEN NARYMER KREIS,
Gouvernement Tomsk, West-Sibirien.
IV. Teil
Von Januar 1919 bis Januar 1920
Bornecker schaute mich noch immer prüfend an. Ich kam mir vor, wie ein rettender Prinz im Märchen. Einer, der den Drachen in der Höhle besiegen musste, um die Prinzessin zu retten. Einer, der nur dann Zutritt zur Drachenhöhle erhielt, nachdem er die alles entscheidende Frage richtig beantwortet hatte.
Aber ich hatte keine Ahnung. Was sollte ich sagen? Was ich las, war belanglos. Es war banal. Ich schaute noch einmal auf die fünf Zeilen und dann ging mir ein Licht auf. Aber natürlich … Ich hatte gelesen, dass Adolph Dattan bereits im Januar 1915 verbannt worden war. Das war es, vor mir lag das Deckblatt vom vierten Teil. Es musste noch mindestens drei weitere Teile geben.
„Sie suchen Teil 1, 2 und 3, Herr Bornecker. Habe ich recht? Und ich soll sie Ihnen beschaffen, aus Russland, stimmt’s?“
Bornecker strahlte. Die Drachenhöhle öffnete sich und die Rettung der Prinzessin konnte beginnen.
Danach ging alles ganz schnell. Wir beredeten ein paar organisatorische Dinge und verabredeten ein nächstes Treffen. Als wir das Café verließen, wurde Siegfried Bornecker plötzlich wieder ernst.
„Wissen Sie Frau Stehr, Sie haben zwar gesagt, dass ich fit und jung aussehe. Das war sehr charmant, aber man weiß nie, was passiert. Im Oktober haben wir unser Familientreffen. Alle zwei Jahre kommen die Dattan-Erben zusammen, es ist mittlerweile ein Großereignis. Ich würde gern bis dahin die Sammlung abschließen. Und ich möchte gern eine Chronik der Unternehmensgeschichte in Auftrag geben.
Wissen Sie, das Jahr 2014 ist ein besonderes Jahr. Vor 150 Jahren begann alles, dort im wilden Osten, bei den vierundvierzig Holzhütten. Am 16. September 1864 erreichte die Meta mit der ersten Hamburger Warenladung den Hafen von Wladiwostok. Ich möchte ein Buch schreiben, aber dazu brauche ich Sie. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, glauben Sie mir, Anna.“
Was sollte ich dazu sagen? Ich wusste nicht, ob ich diesen Erwartungen je gerecht werden könnte. Was wäre, wenn ich nichts finden würde? Die Enttäuschung wäre größer denn je. Ich dachte plötzlich wieder an die Annonce: Bei zufriedenstellenden Rechercheergebnissen erwartet den Bewerber eine überdurchschnittliche Bezahlung. So ein Quatsch – zufriedenstellende Rechercheergebnisse … Was wäre zufriedenstellend? Nur das Tagebuch. Was wäre, wenn ich nichts oder etwas ganz anderes entdecken würde? Kein ernst zu nehmender Forscher konnte das Ergebnis vorhersehen. Kein seriöser Wissenschaftler konnte sich auf so etwas einlassen. Ich war Historikerin, kein Detektiv. Ich musste die Reißleine ziehen, auch wenn ich ihm gern geholfen hätte, auch wenn ich gern nach Russland gefahren wäre. Die Erwartungen waren einfach zu hoch.
„Es tut mir schrecklich leid, Herr Bornecker, aber es geht doch nicht. Ich kann den Auftrag nicht annehmen.“
Siegfried Bornecker sah mich entsetzt an. Es war, als ob ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte.
„Ich kann Ihnen das nicht versprechen. Das Tagebuch kann überall sein, wenn es überhaupt noch existiert. Wer weiß, ob es nicht zerstört wurde, ob es überhaupt in Russland liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es finde, ist winzig klein. Vielleicht entdecke ich stattdessen Dinge, die nicht in Ihr Bild passen, von denen Sie lieber nichts wissen wollen. Vielleicht ist es besser, sich mit den Lücken abzufinden.“
Plötzlich lachte Bornecker. Ich wusste nicht, was es da zu Lachen gab, denn ich hatte ihm gerade eine Abfuhr erteilt.
„Ich habe Sie richtig eingeschätzt, Anna. Ich wusste, dass Sie das sagen würden, ich wusste, dass Sie zweifeln würden, weil Sie die Sache ernst nehmen. Das beruhigt mich. Und trotzdem. Wenn ich suche, ist die Chance noch unvergleichlich viel kleiner. Sie fahren, Anna Stehr. Ich weiß, Sie sind die Richtige. Wenn jemand etwas findet, dann Sie. Den Test mit dem Deckblatt habe ich mit drei Historikern gemacht. Mit drei renommierten Historikern, wohlgemerkt. Der Erste hat minutenlang das Papier studiert und aus der Analyse der Fasern das Alter des Blattes geschlussfolgert. Der Zweite hat mir einen Vortrag über die Schrifttype der verwendeten Schreibmaschine gehalten und die Vorzüge der Erika Nr. 1, der ersten deutschen Reiseschreibmaschine, gepriesen. Und wissen Sie, was der Dritte gesagt hat? Dass der Narymer Kreis nach der Gebietsreform von 1918 genau genommen gar nicht mehr im Gouvernement Tomsk lag, sondern knapp hinter der Grenzlinie. Ich kann das alles nicht beurteilen Anna, aber auf das Naheliegende ist keiner dieser drei Experten gekommen, weil sie zu spezialisiert sind – Gefangene in ihrem Elfenbeinturm der Wissenschaft. Sie sind anders, Anna. Sie wissen auch viel, aber Sie sind trotzdem normal und haben einen klaren Blick. Sie denken logisch und trotzdem haben Sie sich die Neugier eines Kindes bewahrt. Ich weiß, das klingt schrecklich naiv und kitschig, aber es ist so. Und deshalb werden Sie fahren, Anna. Wenn Sie nichts finden, bin ich der Letzte, der damit nicht leben kann. Sie werden natürlich trotzdem angemessen bezahlt. Vergessen Sie die Annonce, das war wirklich Unsinn, was ich da geschrieben habe. Aber ich habe noch nie eine Anzeige aufgegeben und ich wollte, dass das jemand findet. Jemand wie Sie. Schlagen Sie ein, Anna!“
Bornecker hielt mir seine Hand hin. Ich wusste nicht, ob ich gerade einen Pakt mit dem Teufel schloss, irgendetwas warnte mich, aber plötzlich