Dattans Erbe. Nancy Aris

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Dattans Erbe - Nancy Aris

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tat er mir leid. Andererseits … er selbst arbeitete zwölf Stunden am Tag, hatte nie Zeit. Was sollte er sich also aufregen? Vielleicht würde ich nicht lange bleiben, wer weiß, was mich hier erwartete. Dieses Tagebuch konnte sonst wo liegen. Eigentlich war es wahrscheinlicher, dass ich es in Kolpaschewo oder in Tomsk finden würde. Dort, wo sich Dattan während seiner Verbannung aufgehalten hatte. Warum also ausgerechnet Wladiwostok? Warum hätte er es hier lassen sollen? Wenn er die Aufzeichnungen auf dem langen und beschwerlichen Weg von Kolpaschewo bis Wladiwostok mitgenommen hatte, warum sollte er dann nur einen Teil der Unterlagen mit in seine Heimat, nach Naumburg, genommen und einen Teil hier zurückgelassen haben? Das war vollkommen unlogisch. Mittlerweile war ich der Ansicht, dass die Suche in Deutschland oder bei den Angehörigen, die nunmehr über die ganze Welt verstreut lebten, viel sinnvoller wäre. Es war grotesk, denn ursprünglich war ich diejenige, die unbedingt hierher wollte. Aber irgendwann war ich von der Suche nach dem Tagebuch so eingenommen, dass ich jede Fährte verfolgte, egal, wohin sie führte. Mein herbeigesehntes Russlandabenteuer geriet dabei fast ins Hintertreffen. Doch Bornecker mochte nicht auf mich hören, er wollte unbedingt, dass ich dort begann, wo auch damals alles begonnen hatte. Er bestand darauf, weil er felsenfest daran glaubte, dass die Suche nach der Nadel im Heuhaufen nur dann gelänge, wenn allem Anfang ein besonderer Zauber innewohne. Und dieser Zauber konnte sich nur am authentischen Ort entfalten. Ich tat ihm den Gefallen. Schließlich war ich diejenige, die unbedingt nach Russland wollte, für die die Recherche anfangs nur willkommener Anlass war. Bornecker war es, der dieses Abenteuer bezahlte. Außerdem war er jemand, dem man nichts abschlagen konnte. Jetzt fand ich, dass er richtig gelegen hatte. Ich war froh, diesen weiten Weg auf mich genommen zu haben.

      Am nächsten Tag ging ich ins Archiv. Es befand sich mitten im Zentrum, nur ein paar Minuten zu Fuß. Zu Hause hatte ich mir über meine Kontakte zu verschiedenen Dozenten ein paar Empfehlungsschreiben ausstellen lassen. Ohne ein amtliches Schreiben ging in Russland nichts. Stempel waren wichtig. Und ich hatte meinen Besuch und den Grund meiner Recherche angekündigt. Natürlich hatte ich das Tagebuch nicht erwähnt. In Russland erwähnte man das, was man wollte, besser nie sofort und nie direkt. Man umkreiste die Dinge behutsam.

      Der Wachhabende am Eingang kontrollierte meinen Pass, notierte sich die Daten und schickte mich direkt in den Lesesaal. Meine Sachen sollte ich einschließen. Im Lesesaal begrüßte mich eine hagere Dame um die fünfzig. Auch dort der obligatorische Eintrag ins Besucherbuch und die Frage nach dem Empfehlungsschreiben, das mich berechtigte, dort zu recherchieren. Ich wusste es. Auf meine erste Anfrage hin hatte man mir mitgeteilt, dass ich nichts dergleichen bräuchte und einfach so kommen könne. Ich wollte mich darauf nicht verlassen, weil ich wusste, dass in Russland Stempel verehrt, gefürchtet und geliebt wurden. Wer einen Stempel hatte, hatte das Sagen, wer etwas Gestempeltes vorzeigen konnte, hatte recht. Eine Unternehmung war erst dann von Bedeutung, wenn sie durch ein Schreiben unterfüttert war. Je gewichtiger der Absender, umso bedeutungsvoller das Vorhaben. Ich war froh, meinen Erfahrungen vertraut zu haben.

      Nachdem ich eine Reihe von Papieren ausgefüllt hatte, wurden mir sogleich die ersten Akten gebracht. Sie hatten das aufgrund meiner E-Mail-Anfrage schon vorbereitet. So etwas hatte ich in Moskau nie erlebt. Dort musste man grundsätzlich erst einmal zwei Tage warten.

      Das war es also, das Archiv des Fernen Ostens. Es hörte sich groß an. Groß und sagenumwoben. Was ich sah, war alles andere als das. Der Lesesaal war unwesentlich viel größer als unser Wohnzimmer. Dennoch beherbergte er sechzehn kleine Arbeitstische, in vier Reihen aufgestellt. Auf der rechten Seite des Raumes gab es ein paar Computerarbeitsplätze und in der Ecke stand der Schreibtisch von Ljudmila Petrowna. Ich setzte mich in die zweite Reihe. Ein bisschen fühlte ich mich wie in der Schule. Vielleicht lag es auch am strengen Blick der Aktenverwalterin. Aber immerhin saß sie mit uns in einem Raum, war Teil des Ganzen. In Moskau bekam man seine Akten aus einer Luke herausgereicht. Der Lesesaal war durch eine Wand von den Akten und den Archivmitarbeitern getrennt. Nur das unscheinbare Fenster bildete die Verbindung zu den dahinter befindlichen Aktenregalen. Doch der Aktenbereich war tiefer gelegen, weil er offenbar zu einem anderen Gebäudeteil gehörte. Jeder, der etwas bestellen wollte oder eine Frage an die Archivare hatte, musste sich in Bückhaltung begeben, weil die Mitarbeiter wegen des Höhenunterschiedes ansonsten nur die Bäuche der Archivnutzer gesehen hätten. Man hätte in die Hocke gehen können, weil die Ausgabeluke ohnehin niedrig war. Doch um etwas Würde zu behalten und dies zu vermeiden, hing man schräg oder kopfüber. Ich hatte es gehasst damals, weil die Archivare ohnehin in einer Machtposition waren und diese nun auch noch mit der körperlichen Erniedrigung der Nutzer Tag für Tag feierten. Und ich hatte eine Theorie aufgestellt: Je wichtiger die Angelegenheit war und je weiter man in den Osten kam, umso niedriger und kleiner wurden die Fenster. In Zentralasien gab es auf Bahnhöfen winzige vergitterte Fahrkartenverkaufsfenster, vor denen Menschentrauben hingen. Hier war ich nun am östlichsten Ende angekommen. Nach meiner Theorie hätte ich am Boden liegend mit der Lupe das Fenster suchen müssen, aber nichts dergleichen. Es gab kein Fenster, nicht einmal eine Trennwand. Man begegnete sich auf Augenhöhe, auch wenn vor Ljudmilas Augen eine großformatige Brille saß. Es war so ein ehemaliges Sowjetmodel aus jener Zeit, als große Brillengläser noch ein Zeichen vorbildlicher Gesundheitsfürsorge waren. Das Archiv des Fernen Ostens war mir sympathisch.

      Vor mir lag ein Aktenstapel und schon ein flüchtiger Blick verdarb mir die Laune. Das meiste waren handschriftlich verfasste Dokumente, zudem noch in alter Schreibweise. Irgendwelche Schriftwechsel der Stadtverwaltung. Ich bräuchte eine Ewigkeit, wenn ich das alles durchackern wollte. Deshalb entschied ich mich sofort, es gar nicht erst zu versuchen. Die nächsten Stunden verbrachte ich mit Blättern. Ab und zu fand ich mal eine Seite, die entfernt etwas mit Dattan zu tun hatte, aber alles war belanglos und brachte mich nicht weiter. Egal. Ich hatte ein paar Wochen Zeit. Morgen würde ich mir ein paar Findbücher kommen lassen, für heute war es genug.

      Ich ging ins Hotel. Schon jetzt nervte mich, dass ich mir nichts kochen konnte. Fast Food hasste ich. Ich musste mir eine Wohnung suchen. In der Stadt hatte ich an Bushaltestellen Dutzende Zettel mit Wohnungsinseraten gesehen. Doch fast überall las ich die gleiche Telefonnummer. Außerdem stand dort nicht, in welchem Stadtteil die Wohnung überhaupt lag. Eins war von Anfang an klar. Ich wollte auf keinen Fall in einem Neubaublock in einem der Außenbezirke wohnen, sondern im Zentrum, am besten irgendwo am Meer. Ich brauchte einen Stadtplan. Die Stadt schien riesig, sie franzte in alle Richtungen aus, und obwohl hier nur 500 000 Menschen lebten, hatte man den Eindruck, in einer Mega-City zu sein.

      Im Hotel hatte ich WLAN. Ich setzte mich mit meinem Laptop in die Lobby und fing an zu suchen. Kaum hatte ich die ersten Seiten aufgerufen, ärgerte ich mich über mich selbst. Da war ich vor Ort, konnte mit den Leuten reden, konnte durch die Straßen streifen und dort nach Inseraten suchen oder mir eine Zeitung mit Annoncen kaufen. Aber was tat ich? Ich hing im Netz. Das hätte ich auch in Berlin tun können. Dafür hätte ich keine 12 000 Kilometer fliegen müssen. Ich war sauer, denn das, was ich im Internet sah, war viel ausführlicher und besser als die nichtssagenden Klebezettel. Was brachte die Realität, die ich mit eigenen Augen sah? Ich schrieb drei Anbietern eine kurze Mail, dann klappte ich den Computer zu. Irgendwie gefiel mir das nicht. Früher hatte ich einfach gefragt. Je abwegiger die Frage schien, umso Erfolg versprechender war oft die Antwort. Warum es nicht einfach so machen wie früher?

      Ich ging zur Rezeption. Marina sortierte ein paar Papiere, dann blickte sie zu mir auf. Bisher hatte ich nur sie hier gesehen, offenbar schien sie rund um die Uhr zu arbeiten. Ich hätte lieber jemand anderen angesprochen, denn Marina schien jede Frage zu stören. Aber manchmal täuschte man sich. Wie oft hatte ich erlebt, dass gerade die Grantigen und Unnahbaren sich als die Herzlichsten entpuppten, sobald das Eis gebrochen war.

      „Marina Iwanowna, hätten Sie mal ein Sekündchen Zeit, nur ganz kurz“, versuchte ich es betont freundlich. „Ich habe eine klitzekleine Frage, vielleicht können Sie mir helfen.“ Wer in Russland etwas will,

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