Inquietudo. Alexander Suckel
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Gestern Abend kam sie aus der Stadt zum Haus des alten Mannes, läutete an der Klingel ohne Namensschild. Niemand öffnete, nur ihr Rucksack lag draußen vor der Tür. Es fehlte nichts. Die Nacht über hockte sie in einer Bar und hatte Mühe, sich diversen Avancen läufiger Nachtköter zu erwehren. Zu trinken bekam sie reichlich, doch sie hatte Hunger. Die ganze Nacht. Es war elf Uhr vormittags, und es war heute noch einmal, sehr plötzlich, warm geworden, als Julia lang und ausdauernd gähnte, während sie einen Jungen beobachtete, der mit den Fingern auf dem Bürgersteig nach etwas zu suchen schien.
***
In der Mottenkiste aller Klavierspieler gibt es ein paar Tricks bezüglich der Frauen. Einen davon hatte Kruse vom Trommler erfahren, verbunden mit der süffisanten Erwähnung, welch enorme Anzahl blondierter Schönheiten der Nacht den Weg zu Großvaters Klavier und wohl auch Bett gefunden hatten: Jede Musik hat einen neuralgischen Punkt, einen Kern, ein geheimes subtil-erotisches Zentrum, meist die Wiederholung des B-Teils vor dem Instrumentalsolo oder kurz danach. Der Trick besteht darin, in genau jenem Augenblick die Augen von den Tasten zu heben und fest und unbeirrt auf der Dame des Abends, man darf wohl sagen, dem Opfer, ruhen zu lassen, sie glauben zu machen, dieser geheime Höhepunkt entstehe nur und ausschließlich für sie. Gelegentlich hatte auch Kruse nicht widerstehen können, diesen Trick anzuwenden, und man darf wohl hinzufügen, er war dabei nicht gänzlich erfolglos.
Es war im Herbst, einer dieser grauen Mittwochabende, tote Tage, wie man so sagt, kein Abend für die Bar. Ein paar Fernsehschauspieler lümmelten lärmend an den vorderen Tischen und waren schon ziemlich betrunken. Unter ihnen stand eine Frau, die nicht zu ihnen zu gehören schien und die dennoch den Mittelpunkt dieser Zusammenkunft bildete. Ihr Gesicht erinnerte an das einer Statue im Ägyptischen Museum. Ein Gesicht, von dem Kruse bereits als Frühpubertierender anlässlich von Schulbesuchen gewusst hatte, dass es all das verstrahlte, was Männer in ihren schwitzigen Fantasien von Frauen im Allgemeinen erwarteten und glaubten. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, in der rechten Hand nachlässig eine Zigarette haltend. Eine nervöse Unruhe ging von ihr aus. Vielleicht war sie auch schon auf dem Sprung, wieder zu gehen. Ihre dunklen Augen irrten ziellos durch den Raum. Die hohen markanten Wangenknochen verliehen ihr ein leicht exotisches, irgendwie slawisches Äußeres. Sie erschien eher klein, aber das konnte täuschen. Auch wenn man wegen der Entfernung von ihr kein Wort hören konnte, glaubte Kruse doch, nahezu alles verstehen zu können. Er lachte darüber, was man als blitzartig Verliebter eben alles von sich glaubt in solchen Momenten. Die trunkenen Mimen sprangen ihr förmlich ins Gesicht, hafteten mit verdrehten Augen an ihren Lippen – distanzlose, klebrige Vampire.
Er spielte irgendeine unbedeutende Improvisation über irgendein Thema von Horace Silver, und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie trafen sich immerhin, und sie trafen sich im nämlichen Moment. Es dauerte anstandshalber einige Minuten, bis sie mit leichten und dennoch bestimmten Schritten zum Klavier herüberkam und mit leiser Stimme fragte, ob er wohl für sie eine bestimmte Nummer spielen könne. Er nickte, und sie ging zu ihrem Platz, lächelte noch einmal kurz und gewollt nachlässig über die Schulter. Er spielte, was sie sich wünschte. Es war nicht sonderlich originell. Irgendwann waren sie verschwunden, die nächtliche Nofretete samt ihren Clowns, ohne dass er es wirklich bemerkt hätte. An diesem Abend arbeitete er nicht mehr lange, auch weil in der Bar kaum noch Gäste auftauchten. Dafür spielte er an den nächsten Tagen fast das doppelte Pensum, meist bis in die frühen Morgenstunden hinein, in der Hoffnung, sie würde wieder auftauchen. Natürlich kam sie nicht zurück. Jedenfalls nicht in die Bar.
***
Der Tag vor dem Heiligen Abend war unerwartet warm und freundlich, die Sonne überflutete Madrid mit einer gleißenden Winterhelle, als Vince den Holzlaster in der Auslage eines Spielwarengeschäftes in der Nähe der Plaza Puerta del Sol erblickte. Mit den Füßen stocherte er nach einer löchrigen Stelle im Pflastergestein, entdeckte alsbald, was er suchte, bückte sich, ergriff einen Stein, indem er mit geübten Handgriffen die Sandverfugung löste, nahm ein paar Schritte Anlauf, holte in einem weiten Bogen aus und schleuderte mit voller Wucht den Stein in die Auslage. Manchmal ist einem danach, einen Stein in die Auslage zu werfen. Vince blickte sich kurz um, einige Leute waren stehen geblieben und sahen ihn entgeistert an. Dann betrachtete er noch einmal für einen kleinen Moment sein Werk. Der Stein hatte die Kipplade eines Baufahrzeuges erwischt. Wie ein totes Tier, das Maul weit aufreißend, starrte ihn das umgefallene Auto an, einen Teddybären von schillernd bläulicher Farbe unter sich begrabend. Der Laster aus groben unbehandeltem Holz stand unberührt daneben, so als hätte dieser Anschlag nicht ihm gegolten. Vince spürte einen heftigen starken Griff in seinem Nacken. Er versuchte sich umzudrehen. Ein Schnauzbärtiger mit einer Jacke aus blauem Stoff, der an den Teddybären erinnerte, schrie auf ihn ein, während seine Finger sich in Vince’ Hals festkrallten. Er sah nur den sich öffnenden und wieder schließenden Mund, eine Reihe dunkelbrauner Zähne und eine dicke weißliche Zunge. Instinktiv legte er den Ellenbogen an und rammte ihn mit aller Kraft dem Schnauzbärtigen in die Eingeweide. Der ließ von seinem Opfer ab und krümmte sich vor Schmerzen. Vince boxte sich einen Weg durch die glotzende Meute. Nach einer Weile war er am Parque del Retiro angelangt. Blieb zum ersten Mal stehen, außer Atem, sah sich um, stellte fest, dass ihm niemand gefolgt war. Er setzte sich auf eine Parkbank, das Gesicht tief in den Händen vergraben. Es war ihm gleichgültig.
Was machst du hier?
Vince blickte auf. Es war kalt. Ihm war kalt.
Was gehts dich an!
Er würdigte das Mädchen nur eines kurzen Blickes.
Redest nicht gerne, was?
Verpiss dich!
Vince spuckte gezielt vor die Füße des Mädchens.
Klobige, heruntergekommene, ehemals teure Stiefel.
Wenn du hier noch lange sitzt, frierst du fest.
Wenn schon, wüsste nicht, was dich das angeht.
Ich mein ja nur.
Tu mirn Gefallen und zieh Leine! Ich sitz hier n bisschen im Park, genieße die Luft und hab keine Lust, mit dir zu reden. Also hau ab!
Weißt du was? Du spinnst! Es wird kalt nachher, du hast überhaupt keine richtige Jacke an, und in einer Stunde ist es dunkel.
Nach einer Pause, die Vince, ohne eine Regung zu zeigen, verstreichen ließ:
Wo bleibst du heute Nacht?
Ich brauch keinen, der auf mich aufpasst, mir sagt, was ich anziehen soll und wann es dunkel wird. Und jetzt hau endlich ab.
Er hob drohend eine Hand.
Du schlägst bestimmt keine Mädchen, könnt ich wetten.
Würds nicht drauf ankommen lassen.
Vince spuckte nochmals aus. Er traf die Stiefelspitze des Mädchens.
Ich hab dich gesehen, vorhin. Das mit dem Stein. Und wie du dem Dicken eine verpasst hast.
Geh doch zur Polizei. Erzähls denen.
Könnt ich machen.
Dann wärst du wenigstens weg.