Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi
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„Dieser Gedanke beschäftigt mich während meines Studiums immer wieder“, antwortete sie. „Ich glaube, viele Menschen mögen die Monarchie wegen ihres Bedürfnisses nach Sicherheit und Vertrautheit. In der Demokratie wird ständig um Macht und Einfluss gekämpft. Man kann nie sicher sein, wer sich dabei durchsetzt. In der Monarchie können zwar Missgeburten auftreten, aber Tradition und Erziehung wirken ausgleichend. Da die Nachfolge grundsätzlich mit der Geburt feststeht, kann sich die Gesellschaft langfristig darauf einstellen und sich rechtzeitig an die Thronerben gewöhnen. Das ist ja wohl auch der Grund, warum es inzwischen sogar in einigen sozialistischen Ländern Erbdiktaturen gibt. Es geht immer nur um Macht. Ideologien oder Staatsanliegen werden nur vorgeschoben.“
„Ich habe mich nie in mein Amt gedrängt und es immer als Zufall angesehen, dass ich zum König eines nicht unbedeutenden Landes geworden bin“, entgegnete der Vater. „Bevor ich mich weiter so sehr ärgern muss, kann ich resignieren und die Krone ablegen. Es bleiben mir genug andere Interessen.“
„Lass dich doch von Lore nicht derart aus dem Gleichgewicht bringen“, wandte die Königin ein. „Der Staat ist, wie er ist. Du hast Verantwortung übernommen. Auch müsste deine Nachfolge vorher noch geklärt werden.“
„Ich glaube nicht, dass der Kronrat zustimmen wird, wenn nach dem Gesetz unser Ältester an der Reihe wäre“, erwiderte der König. „Er kann ja nichts dafür, doch das Amt würde ihn überfordern. Da sind wir uns alle einig.“
„Wir haben ja noch einen zweiten Sohn. Vergiss nicht, mit welchen Problemen und Opfern ich ihn zur Welt gebracht habe. Joseph ist ein braver Junge.“
„Ihr beide solltet nicht vergessen, was in unserer Verfassung steht“, wandte nun Lore entschieden ein. „Es gilt zwar immer noch die männliche Nachfolge, doch wenn kein Kronprinz vorhanden ist, geht die Krone an die älteste Tochter. Das aber bin ich.“
„Du wirst doch deinen jüngeren Bruder nicht in Frage stellen“, empörte sich die Mutter.
„Das brauche ich nicht zu tun. Es gibt nach neuesten Forschungen mindestens 30 verschiedene Arten von Geschlechtern. In unserer Verfassung ist aber eindeutig von einem männlichen Nachkommen die Rede. Wenn du, liebe Mutter, dich ein bisschen mehr um Joseph gekümmert und ihn vielleicht auch mal persönlich gebadet hättest, wäre dir sicher etwas aufgefallen. Dein Jüngster ist ein Zwitter, in jedem Fall kein eindeutiger Mann. Wenn der Kronrat davon erfährt, wird er sich auch damit auseinandersetzen müssen. Unsere Verfassung ist in diesem Fall nicht auf der Höhe der Zeit. Schon lange gibt es die Forderung, die Thronfolge nicht vom Geschlecht abhängig zu machen. Doch die Monarchisten im Parlament haben sich nicht getraut, diese Änderung zu beantragen. Sie haben befürchtet, dass dann die Monarchie insgesamt in Frage gestellt werden könnte. In anderen Ländern ist die weibliche Nachfolge längst eine Selbstverständlichkeit. So wie die Dinge stehen, bin ich die legitime Thronerbin.“
„Du bist eine Hexe!“, giftete die Mutter.
„Und ich bin nur ein Mensch“, stöhnte der Vater. „Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Morgen werde ich meinen Rücktritt bekanntgeben.“
„Dafür besteht keinerlei Grund“, wandte Lore ein.
Das Gespräch der drei wurde jäh unterbrochen. Lange hatte Daniel sich bemüht, seine unbequeme Lage einzuhalten, sich kaum zu bewegen und keine Geräusche zu verursachen. Doch jetzt hatte er unwiderstehlich niesen müssen. Er hörte, wie die Königin aufschrie und der König einen grässlichen Fluch ausstieß. Die Tür knallte, und es wurde für eine Weile ganz still im ‚Salon Nabucco‘. Dann wurde die Tür wieder aufgerissen, und die Königin war zu vernehmen.
„Du hast uns also angelogen und diesen deutschen Bastard bei dir versteckt. Wenn er nicht sofort aus dem Schloss verschwindet, schicke ich die Leibgarde, dass sie ihn am Kragen fasst und aus dem Fenster wirft. Es ist unerträglich, was der uns zumutet. Der junge Schnösel hat alles mit angehört und wird morgen zur Presse gehen. Hast du den Journalisten noch nicht genug Stoff geliefert? ‚Prinzessin Lore umschwärmt ihren verheirateten Vetter‘; ‚Schon wieder ein neuer Liebhaber‘; ‚Ist Lore unersättlich?‘; ‚Vater und Tochter auf Staatsbesuch. Der Vater beließ es beim Händeschütteln‘. Was sollen wir denn noch in den Zeitungen über dich lesen? Hast du nicht einen Rest von Anstand?“
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich verliebt“, erklärte Lore. „Das ist doch ganz normal. Wenn ich nicht in diesem unmöglichen Schloss leben und auf so viele Konventionen Rücksicht nehmen müsste, gäbe es kein Problem. Doch sei unbesorgt. Daniel ist ein sehr diskreter Mann und wird spätestens morgen unser Land verlassen.“
„Mit wem hast du dich da eingelassen? Er soll in Deutschland einen Mord begangen haben. Es liegt noch kein Antrag auf Auslieferung vor. Doch wir müssen jederzeit damit rechnen. Es handelt sich also nicht nur um eine private Liebesaffäre. Es könnte ein juristischer und diplomatischer Skandal daraus werden.“
„Lass es mich regeln“, antwortete Lore bestimmend. Die Mutter verließ den Salon, und Lore befreite Daniel aus seinem Gefängnis. Als sie ihn sah, begann sie unbändig zu lachen, dann prustete es auch ihr heraus: „Das hätte sich ein Filmregisseur nicht absonderlicher ausdenken können. Ein Glück, dass du nicht früher geniest hast. Dann wären die Probleme in meiner Familie wohl wieder einmal nicht angesprochen worden.“
„Bin ich jetzt schuld, wenn dein Vater morgen zurücktritt?“, fragte Daniel besorgt.
„Das wird er nicht tun“, erwiderte sie bestimmt. „Es geschieht immer wieder, dass er es ankündigt, doch dann überlegt er es sich und besinnt sich auf seine Verantwortung. Die Nachfolgefrage ist etwas prekär.“
„Habe ich richtig verstanden, dass es mit deinem älteren Bruder ein Problem gibt?“
„Mit dem älteren und auch dem jüngeren. Der ältere hatte vor einem Jahr bei einer Safari einen schweren Unfall. Davon wurde leider auch sein Gehirn betroffen. Er kann sich kaum konzentrieren und hat immer wieder geistige Aussetzer. Es wird von Monat zu Monat schlimmer mit ihm. Der Aufgabe eines Königs ist er nicht mehr gewachsen. Mein jüngeres Geschwister wurde zwar in eine männliche Rolle gedrängt, doch, wie du gehört hast, ist es weder Mann noch Frau. Falls sich der Kronrat gegen meinen älteren Bruder entscheidet, müsste die Thronfolge auf mich als älteste Tochter übergehen. Ich dränge mich nicht danach. Es würde mich freuen, wenn mein Vater noch lange im Amt bliebe. Danach aber werde ich auf meinen Rechten bestehen.“
„Wirst du mir helfen, in ein anderes Land zu entkommen? Jetzt, nachdem sich die Dinge so sehr verwickelt haben, möchte ich mich noch weniger als vorher der deutschen Polizei stellen. Ich habe gelesen, dass in Deutschland fast 100 Prozent aller Mordfälle gelöst werden. Man lässt nicht locker und scheut keine Kosten, bis alles aufgeklärt ist.“
„Das wäre doch gut für dich, wenn du nicht der Mörder bist.“
„Ich habe heute Morgen über deinen Computer die Nachrichten aus meiner Heimatregion abgerufen. Die Presse überschlägt sich mit Tiraden auf mich. Das halte ich nicht aus. Ich will irgendwohin verschwinden, wo niemand mich findet und mich erst wieder melden, wenn man den wirklichen Mörder gefasst hat.“
„Morgen werden die Medien mit unserem Verhältnis aufmachen. Das wird auch für mich nicht einfach. Bis dahin musst du außer Landes sein. Der verlässlichste meiner Freunde wird dich nach Betanien bringen. Dieses Land hat zurzeit keine handlungsfähige Regierung. Fanatische Sektierer kämpfen um die Vorherrschaft. Andere Staaten versuchen, darauf Einfluss zu nehmen. Bisher verlaufen die Auseinandersetzungen weitgehend friedlich. Politisch