Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi
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Читать онлайн книгу Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi страница 8
Bald aber musste er erleben, wie ernst Tamrud und Selass es mit ihren Glaubenssätzen hielten. In höchster Erregung teilten sie ihm mit, dass Ena und Solo, zwei Mitglieder ihrer Gemeinde, miteinander Ehebruch begangen hätten. Der betrogene Ehemann fordere Genugtuung. Ena müsse sofort gesteinigt werden.
„Warum nur sie?“, fragte Daniel. „Zum Ehebruch gehören doch mindestens zwei. Was ist mit Solo?“
„Auch er ist verheiratet“, erwiderte Selass. „Doch die göttlichen Gesetze sehen vor, dass nur die Ehebrecherin gesteinigt wird. Das ist doch logisch. Wenn sie sich nicht darauf eingelassen hätte, wäre es nie zum Ehebruch gekommen. Ono verlangt von den Frauen, dass sie Sitte und Anstand in Ehren halten. Auch Männer dürfen nicht die Ehe brechen. Pflicht der Frauen aber ist es, sie vor dieser Sünde zu bewahren. Sie aber hat ihn im Gegenteil verführt. Die Gemeinde ist aufgebracht. Sie verlangt die sofortige Vollstreckung der Steinigung. Kommt mit, wir müssen das bezeugen.“
Sie verließen das Gotteshaus und gingen zu einem nahen Platz. Dort war eine junge Frau bis zum Nabel in die Erde eingegraben. Ihr Körper war nur mit einem groben Leinenhemd bedeckt. Im Abstand von wenigen Metern liefen Männer aufgeregt gestikulierend hin und her. Alle hielten Steine in den Händen und schrien durcheinander. Der Sprachcomputer übersetzte ihm ihre Flüche und Obszönitäten. Daniel konnte es nicht fassen. Tamrud schaute an der aufgebrachten Menge vorbei und wirkte unbeteiligt. Selass aber rief der Eingegrabenen zu: „Du hast den Tod verdient. Gottes Gebote dulden keine Verstöße.“ Dann gab er ein deutliches Zeichen, mit der Steinigung zu beginnen.
Daniel hob abwehrend seine rechte Hand und rief mit fester Stimme: „Einen Augenblick noch. Ono ist durch Ena beleidigt worden. Das schreit nach Sühne. Doch der ‚Alte vom Berge‘ hat uns gelehrt, dass nur diejenigen mit Steinen werfen dürfen, die selbst ohne Sünde sind. Er hat das auch begründet. Wenn Ono beleidigt wurde, dann kann das nicht von Leuten gerächt werden, die vorher selbst gesündigt und sich damit von Gott entfernt haben. Nur wer von euch ganz ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
Die Männer, die vorher noch wütende Lästerungen ausgerufen hatten, waren plötzlich irritiert. „Ihr wisst alle von dem ‚Alten vom Berge‘, setzte Daniel hinzu. „Er war ein untadeliger Gottesdiener und ein von Gott bestimmter Prophet. Tamrud und ich sind bei ihm in die Schule gegangen. Der Alte hat uns das, was ich gesagt habe, so gelehrt. Habe ich Recht, Tamrud?“
Daniel schaute gespannt auf die beiden Priester. Selass rang nach Worten und traute sich nicht, die Autorität des „Alten vom Berge“ in Frage zu stellen. Tamrud aber stimmte Daniel zu. „Der Prophet hat einmal gesagt: ‚Es kann nicht sein, dass Sünder Sünder für Sünden bestrafen‘.“
„Nur der völlig Reine hat dazu das Recht“, ergänzte Daniel und ließ keinen Zweifel an dieser Aussage aufkommen: „Es sollen die vortreten, die nie der unerlaubten geschlechtlichen Lust nachgegeben, nie mit einer Frau, mit der sie nicht verheiratet waren, geschlafen und nie sich in irgendeiner Form selbstbefriedigt haben.“ Tatsächlich traten zwei Männer vor.
„Wie wollt ihr beweisen, dass ihr frei von Sünden seid? Sicherlich gibt es einige unter uns, die wissen, dass auch ihr gegen Gottes Gebote verstoßen habt. Man kann sich ja auch irren, und das Gedächtnis kann einen trügen. Ono aber vergisst nie.“ Daniel wunderte sich, dass Tamrud ihm nicht widersprochen hatte. Vielleicht hatte der „Alte“ ja tatsächlich einmal etwas Ähnliches gesagt. Es passte durchaus in das System einer Religion, die nur strengen Rigorismus kannte. Es war auch zu spüren, dass die Versammelten nicht damit einverstanden waren, dass zwei unter ihnen sich für besser hielten als die anderen.
„Ich frage euch nochmals“, fuhr Daniel fort. „Könnt ihr beweisen, dass ihr bisher nie gesündigt habt?“
„Das kann doch niemand“, antwortete der eine der beiden Vorgetretenen.
„Noch weniger kann es meine Aufgabe sein, das für euch zu tun. Zieht euch also zurück, wenn ihr nicht wollt, dass euch Gottes Zorn trifft.“
Betreten folgten die beiden seiner Aufforderung. Es wurde nur noch leise geredet. Auf Daniels Anweisung hin wurde die Ehebrecherin aus ihrer Lage befreit. Sie hatte Tränen in den Augen und wollte Daniel umarmen. Der aber hielt sie zurück und sagte deutlich hörbar. „Du hast gesündigt. Ono wird dir Gelegenheit geben, zu bereuen und Buße zu tun. Gepriesen sei sein Name!“ Nach kurzer Zeit löste sich die Gesellschaft auf. Selass aber warf Daniel einen hasserfüllten Blick zu. Der musste sich darauf einstellen, einen gefährlichen Feind bekommen zu haben.
In der folgenden Zeit versuchte Selass immer wieder, Daniel mit theologischen Fragen zu provozieren und ins Unrecht zu setzen. Der jedoch war auf der Hut. Immer wieder erklärte er, dass er zum Lernen nach Jana gekommen sei und dabei große Hoffnungen und Erwartungen auch auf ihn, den anerkannten Theologen Selass, setze. Nur gelegentlich, wenn ihm die Äußerungen des Priesters allzu abstrus erschienen, berief er sich auf den „Alten von Berge“. Dann aber merkte er immer an, dass nur Tamrud in der Lage sei, die Lehren des Alten richtig zu deuten.
Eines Tages kam Selass auf ihn zu und sagte, dass er ein Problem habe. „Zwei Burschen aus unserer Gemeinde haben sich gestritten. Dabei kam es zu einer Prügelei, und der eine hat dem anderen einen Zahn ausgeschlagen. Die Regel in unseren Schriften heißt für diesen Fall: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn‘. Wie würdest du an meiner Stelle jetzt entscheiden? Die Familien der Streithähne haben sich an mich gewandt. Ich bin mit beiden befreundet und suche nach einem Weg, der Gottes Geboten folgt und von allen akzeptiert werden kann.“
„Um was für einen Zahn handelt es sich?“, fragte Daniel.
„Um den Eckzahn in der linken Hälfte des Oberkiefers.“
„Ich bin zwar nicht theologisch geschult wie du, würde aber folgenden Vorschlag machen: Der Bursche, der dem anderen den Zahn ausgeschlagen hat, geht zum Zahnarzt und lässt sich den entsprechenden Zahn aus seinem Oberkiefer entfernen. So wäre dem Gebot Genüge getan. Gleichzeitig sollte die Familie des Täters als Ausgleich an die Familie des Opfers 1 000 Gallonen zahlen. Damit könnten die erhitzten Gemüter abgekühlt werden.“
Selass fand diesen Vorschlag überzeugend und hatte seit längerer Zeit mal wieder ein Lob für Daniel übrig. Als sie sich wenig später wieder trafen, wirkte Selass ein wenig verlegen. „Unser Vorschlag wurde von den Familien angenommen, doch der Bursche, um den es geht, verfügt nicht mehr über einen Eckzahn in der linken Hälfte seines Oberkiefers. Er hat ihn schon vor Jahren bei einem Unfall verloren. Ich habe deswegen das Problem theologisch lösen müssen. Die Familien haben sich auf die Zahlung von 2 000 Gallonen geeinigt.“
Während Daniels Verhältnis zu Selass getrübt blieb, entwickelte sich das zu Tamrud zunehmend freundschaftlich. Der Priester, der etwa 30 Jahre älter war als er, sah in Daniel seinen wichtigsten und aufmerksamsten Schüler. Er zweifelte auch nicht daran, dass der junge Deutsche sich inzwischen zu Ono bekehrt hatte und es nur noch ein oder zwei Jahre Ausbildungszeit erforderte, und er werde ihn offiziell in den Priesterstand erheben können. Eines Tages sagte er zu ihm: „Du bist jetzt bald 20 Jahre alt, bist intelligent und hast eine solide und gottgefällige Laufbahn vor dir. Ich habe eine Tochter, Ilfa, die 14 Jahre alt ist. In ein paar Jahren könntest du sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Sie würde dir anhängen und all das erfüllen, was du dir als zukünftiger Priester wünschst.“
Daniel hatte inzwischen gelernt,