Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi
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Читать онлайн книгу Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi страница 11
„Wir müssen schnell nach dem Täter fahnden. Ist irgendwo eine Tür aufgebrochen worden?“, fragte Daniel.
„Der Täter muss einen Schlüssel oder Nachschlüssel besessen haben oder sich, wie du, schon auf dem Gelände befunden haben. Unsere Gemeinde ist groß, viele Gläubige kommen jeden Tag zu uns. Oft öffnen wir ihnen die Tore und lassen die Schlüssel in den Schlössern stecken. Nie bestand ein Grund zum Misstrauen. Wenn jemand unbedingt wollte, konnte er sich einen Nachschlüssel besorgen. Außerdem sind unsere Schlösser alt, ein geübter Handwerker kann sie mit einem Draht öffnen.“
Die örtliche Polizei erschien und untersuchte den Vorfall, und die Religionswächter fragten jeden, den sie trafen, darüber aus, ob er etwas über die Tat oder Tatverdächtige sagen könne. Keiner kam zu einem Ergebnis.
Beim nächsten Gottesdienst war das Klostergelände voller Menschen. Selass hielt eine Predigt, die auch über mehrere Lautsprecher übertragen wurde. Er drohte dem Täter fürchterliche Höllenstrafen an und forderte ihn auf, sich vertraulich bei ihm zu melden. Nur dann bestehe die Möglichkeit, seine Seele vor dem Schlimmsten zu retten. Niemand meldete sich. Es wurden Gerüchte laut, die sich alle als falsch erwiesen.
Selass ließ nicht nach mit seinen Aufrufen. Immer heftiger predigte er, immer fantasievoller und grausamer wurden die von ihm angedrohten Strafen. Es nutzte nichts. Da entschied er sich zum Äußersten. „Ono ist beleidigt worden. Das ist das schlimmste Verbrechen, das Menschen begehen können. Zumindest einer aus unserer Gemeinde muss es gewesen sein. Das Gesetz und unser Glaube verlangen, dass wir ihn mit dem Tod bestrafen. Wenn er aber nicht bereit ist, sich zu melden, bleibt uns nur ein Weg, Ono wieder mit der Menschheit zu versöhnen. Alle Mitglieder der Gemeinde müssen sich selbst hinrichten. Damit ist gewährleistet, dass auch derjenige dabei ist, der die Gotteslästerungen an die Mauern gesprüht hat.“
Die Zuhörer reagierten auf diese Worte sehr unterschiedlich. Alle, die Selass kannten, waren sich im Klaren darüber, dass er es ernst meinte mit seinem Ansinnen. Es war für ihn unvorstellbar, dass eine solche Tat ungesühnt blieb. Einige schüttelten die Köpfe, andere blickten ratlos drein, wieder andere riefen in die Menge, dass der Täter doch endlich den Mut aufbringen solle, sich zu melden. Einige wenige traten auch vor und versicherten, zum Selbstmord bereit zu sein, um Ono zu besänftigen.
„Auf diejenigen, die unschuldig sind, wartet der Himmel“, fuhr Selass fort. „Den Täter aber wird sich der Teufel greifen und ihn mit glühenden Eisen quälen. Seid ihr euch im Klaren, was das bedeutet? Jeder von uns hat sich schon mal die Finger verbrannt. Das hat höllisch weh getan. Für den Verbrecher stehen diese Qualen nun ewig bevor.“
Daniel schaute auf Tamrud, der nachdenklich schien, aber sich nicht traute, zur Predigt des Selass Stellung zu nehmen. Da ergriff er selbst das Wort und sagte: „Liebe Gemeinde, etwas Unverzeihliches und nicht Erklärbares ist geschehen. Jemand hat versucht, über Ono zu lästern. Das ist ihm aber nicht gelungen, denn Ono kann man nicht beleidigen. Er ist so groß und mächtig, dass er über allem steht, was die Menschen über ihn sagen. So hat es uns der ‚Alte vom Berge‘ gelehrt. Der unendliche Gott, der Himmel, Erde und alle Menschen erschaffen hat, braucht uns armselige Menschen nicht, um sich zu bestätigen. Er war, ist und steht weit über allem. Kann eine Ameise einen Elefanten beleidigen?
In seiner unendlichen Güte hat Ono seinen Himmel denen geöffnet, die ein gottgefälliges Leben geführt haben. Mit ihnen will er Gemeinschaft pflegen. Denjenigen, die seinen Geboten nicht folgen oder die sogar dagegen verstoßen, bleibt der Weg in die Hölle. Ono allein entscheidet, wen er bei sich haben will, und er allein entscheidet, wann dies der Fall sein soll. Nicht wir selbst dürfen darüber bestimmen, sondern nur er. ‚Geht nicht eher von der Welt, als bis Ono euch gerufen hat‘, lehrte uns der ‚Alte vom Berge‘. Ich weiß, dass ich für viele von euch ein Fremder bin, jemand, der gerade erst zu Ono gefunden hat. Doch ich hatte das große Glück, schon in jungen Jahren zum Berg wandern zu können und den Alten zu hören. Keiner hat Onos Willen so klar verstanden und wiedergegeben wie er. Folgt aber auch ihr ihm, dann wird Ono euch lieben.
Was nützt es, wenn wir uns umbringen. Ist es unsere Aufgabe, uns als Gemeinde aufzulösen, oder ist es unsere Aufgabe, Zeugnis für Ono abzulegen? Wer aber soll das tun, wenn es uns nicht mehr gibt? Was macht ein Gott, von dem keiner weiß und an den keiner glaubt? Niemand, so wage ich zu behaupten, verfügt über den gleichen Glaubenseifer wie wir. Das muss sich fortsetzen. Deshalb darf die Tat eines Einzelnen, der wahrscheinlich sogar in seinem Geist verwirrt ist, nicht dazu führen, dass wir uns umbringen. Nein, niemals und nein.“
Daniels Rede hatte großen Eindruck auf die Gemeinde gemacht. Nun schauten fast alle auf Tamrud. Er war zwar zurückhaltender als der Eiferer Selass, doch schon wegen seines höheren Alters sehr geachtet.
„Lukas hat richtig gesprochen“, sagte nun Tamrud mit erhaben klingender Stimme. „Er hat nicht aus sich selbst geredet, sondern die Worte wiederholt, die der ‚Alte vom Berge‘ an uns gerichtet hat. Der große Prophet hat mich gelehrt und zum Priester geweiht. Jeder fromme Mann in unserem Land kennt und verehrt ihn. Nie kann ich zulassen, dass seine Lehren nicht befolgt werden.“
Gerne wäre Daniel noch eine böse Bemerkung über Selass losgeworden, doch er verkniff sie sich aus Rücksicht auf Tamrud. Das war auch gut so. Selass ging zwar aus diesem Streit als Verlierer hervor, doch hatte er in der Gemeinde immer noch viele Anhänger. In deren Augen war es auch keine Schande, sich dem „Alten vom Berge“ unterordnen zu müssen. Schließlich hatte Selass, im Gegensatz zu Tamrud, nie das Glück gehabt, in dessen Schule aufgenommen zu werden. Wie immer die Gemeindemitglieder dachten, in Wirklichkeit waren sie aber auch froh, so gut aus der heiklen Angelegenheit entkommen zu sein. In den folgenden Tagen ging Daniel den beiden Priestern so weit wie möglich aus dem Weg. Auch sie hatten offenbar keinen Gesprächsbedarf. Stattdessen unterhielt er sich mit den Religionsschülern und ließ sich immer wieder beim Gebet beobachten.
Er kümmerte sich um die Reinigung der Mauern, was seine Aufgabe war. Das war ein Grund für ihn, häufiger in die Stadt zu gehen. Mit normalem Wasser konnten die Graffiti nicht abgewaschen werden. Er musste nach besonderen Lösungen suchen und ließ sich dabei beraten.
Während einer Pause setzte er sich auf eine Bank auf dem zentralen Marktplatz von Jana. Er dachte nach, wie es weitergehen sollte. Sich den deutschen Behörden zu stellen, kam für ihn nicht in Frage. In Betanien bleiben wollte er auch nicht. Einige Religionsschüler hatten ihm versichert, dass es bald zu einem Bürgerkrieg kommen würde. Die Religionsgemeinschaften und Stämme des Landes waren heillos zerstritten. Daniel fasste den Entschluss, zum Uhrmacher zu gehen und ihm einen Brief an Alexander zu übergeben. Der stand bei Lore im Wort. „Ich will raus hier, und zwar so schnell wie möglich“, würde am Ende des Briefes stehen.
Plötzlich fühlte er wieder einmal eine Hand auf seiner Schulter. Er schaute auf und sah in das freundliche Gesicht eines älteren Mannes. „Erschrecken Sie nicht“, sagte der. „Ich habe Sie schon länger beobachtet.“
„Darf ich fragen, was Sie von mir wollen?“, fragte Daniel misstrauisch. Auch der Zielfahnder hatte freundlich dreingeschaut. Der Mann setzte sich zu ihm auf die Bank. „Junger Freund, ich weiß nicht, woher Sie kommen. Doch ich sehe Ihnen an, dass Sie Arbeit suchen. Hier in unserem Land werden Sie nicht glücklich werden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und es ist zu befürchten, dass schon bald ein Bürgerkrieg ausbricht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres liegt das Fürstentum Hegedon. Es ist klein, aber reich an Erdölvorkommen. Dort werden dringend Arbeitskräfte gesucht. Der Großvater des jetzigen Fürsten war ein leidenschaftlicher Kunstsammler und engagierter Künstlerfreund. In einem Anfall von Wohlwollen hat er angeordnet, dass alle Künstler seines Landes, ob Maler, Bildhauer, Schriftsteller oder Musiker, gleich welchen Alters, eine monatliche Rente