Post mortem. Amalia Zeichnerin

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Post mortem - Amalia Zeichnerin Baker Street Bibliothek

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ein wenig zerzaust. Ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen.

      »Eine Kundin, Pauline Westray. Sie erstickt!«

      Die Augen seiner Frau weiteten sich noch mehr. »Rasch!«, rief sie. Ihre Stimme überschlug sich fast. Gemeinsam hasteten sie die Treppe hinunter – Mabel voran, denn sie war schneller zu Fuß als er. Clarence verfluchte ein weiteres Mal im Stillen sein Bein und die Treppe. Schließlich polterte er mit schweren Schritten zurück ins Atelier.

      Mabel war längst bei der Frau in Nöten, die noch immer auf dem Stuhl saß, und beugte sich über sie. Miss Westray war in sich zusammengesunken und hatte ihre Augen geschlossen. Ihre Lippen und die Augenlider wirkten geschwollen. Rund um den Mund ebenso wie am Hals war ihr Gesicht gerötet. Das steife Korsett hielt ihren Oberkörper halbwegs aufrecht. Das Gleiche galt für die Metallvorrichtung hinter ihrem Kopf.

      Mabel legte ihr zwei Finger an die Halsschlagader. Die Sekunden wollten nicht vergehen. Sie wurde blass und presste für einen Moment die Lippen zusammen. »Miss Westray ist tot«, sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Oh Gott, die Ärmste! Was ist denn bloß passiert?« Eine Träne lief ihr übers Gesicht. Das, was Clarence selbst noch nicht fassen konnte, war bei seiner Frau wohl längst angekommen: die Gewissheit, dass sich in seinem Atelier ein plötzlicher Todesfall ereignet hatte.

      Clarence starrte auf die junge Frau mit den seltsamen Rötungen und Schwellungen. Mit einem Mal war ihm schwindelig. Er musste sich setzen. Unsicher wankte er zu dem anderen Stuhl, der nur wenige Schritte entfernt stand.

      »Was ist passiert?«, fragte seine Frau leise.

      Clarence umklammerte die Stuhllehne, er brauchte den zusätzlichen Halt. Ruhe bewahren! Auf keinen Fall durfte er jetzt den Kopf verlieren. Er war nicht mehr im Krimkrieg, es war lange her. All die Leichen, all der Tod und der grässliche Geruch von Schießpulver, Blut und einsetzender Verwesung … Kalter Schweiß brach ihm aus, seine Hände waren mit einem Mal klamm.

      Clarence straffte sich und konzentrierte sich auf das vertraute Gesicht seiner Frau. Er atmete zwei, drei Mal bewusst langsam ein und aus, so wie Doktor Tyner es ihm schon damals geraten hatte, wenn die grässlichen Bilder wieder auf ihn eingestürmt waren. Ein … aus … ein … aus. Allmählich beruhigte sich sein rasendes Herz.

      Stockend begann er zu erzählen. »Ich sollte eine Abbildung von ihr anfertigen. Miss Westray sagte, sie wolle sich damit an der Königlichen Oper bewerben. Ich … ich sah, dass sie etwas aß, als ich mit der Glasplatte aus der Dunkelkammer kam. Sie schluckte es hinunter und ich vermutete zunächst, dass es ihr vielleicht im Rachen stecken geblieben war. Also klopfte ich ihr kräftig auf den Rücken. Doch das half nicht. Oh Mabel, ich weiß doch auch nicht, warum sie erstickt ist! Ich begreife das nicht, wie kann das sein?«

      Seine Frau betastete den Hals der Verstorbenen. »Diese Schwellungen und Rötungen sind seltsam. So etwas passiert eigentlich nicht, wenn man sich verschluckt.« Ihre Stimme klang nun gefasst, was nicht zu ihren verquollenen, geröteten Augen passen wollte. Andererseits – sie war Krankenschwester gewesen, hatte dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt. Das hatte einen Teil ihres Lebens geprägt, und offenbar griff sie nun auf die ruhige Sachlichkeit von damals zurück, mit der er sie in jenen schrecklichen Tagen im Krieg als verwundeter Soldat kennengelernt hatte.

      Mabel bückte sich nach Miss Westrays Handtasche. »Ich werde einmal schauen, ob ich herausfinde, was sie gegessen hat. Vielleicht hatte sie einen Apfel dabei oder …« Sie kramte in der Handtasche und zog eine kleine Pralinenschachtel heraus, wie man sie in manchen Konditoreien bekommen konnte. »Bromleys Pralinen – feine Schokoladenpralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung«, las sie die Beschriftung vor. Sie öffnete die Schachtel, sodass Clarence den Inhalt sehen konnte. Wie es aussah, fehlte nur eine einzige Praline.

      »Wie seltsam! Ich denke nicht, dass sie sich an der Praline verschluckt hat. Mir scheint, die Rötungen passen nicht dazu. Näheres lässt sich aber wohl erst sagen, wenn sich ein Gerichtsmediziner die Leiche angeschaut hat.«

      Clarence sah seine Frau überrascht an. »Du meinst, ihr Tod ist ein Fall für die Gerichtsmedizin?«

      »Ganz sicher bin ich mir nicht, man müsste sie genauer untersuchen. Auf jeden Fall müssen wir Doktor Tyner verständigen.«

      Der Coroner hier im Stadtteil war ein Bekannter von ihnen. Er arbeitete zudem im Leichenschauhaus als Gerichtsmediziner. Im Krimkrieg war Gerald Tyner Militärarzt gewesen. Mabel kannte ihn noch von damals, als sie in seinem Lazarett gearbeitet hatte. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt und half ihm gelegentlich aus, wenn er zu viel zu tun hatte.

      »Ich werde ihn suchen«, sagte er, doch Mabel schüttelte den Kopf.

      »Würdest du dich stattdessen um die Abbildung kümmern?«, bat sie ihn. »Vielleicht kann sie uns etwas über den Tod der armen Pauline verraten. Ach Gott, sie hatte noch so viele Pläne und glänzende Zukunftsaussichten … Sie war eine wirklich talentierte Sängerin. Und nun wurde sie plötzlich aus dem Leben gerissen.« Mabel schniefte und wischte sich mit der Hand wenig damenhaft über das Gesicht. »Ich suche Doktor Tyner, wenn es dir recht ist.«

      Clarence ließ sich das alles durch den Kopf gehen. In gewisser Weise war der einzige Zeuge dieses Todesfalls seine Kamera. Vermutlich würde es nicht viel bringen, aber einen Versuch war es wert. Er nickte. »In Ordnung.«

      Nachdem Mabel das Atelier verlassen hatte, ergriff Clarence die Kamera mit beiden Händen und kehrte in die Dunkelkammer zurück. Die Routine der vertrauten Abläufe. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Durfte sich nicht von Erinnerungen an die Begegnung mit dem Tod während des Krieges überrollen lassen. Nur die Ruhe!

      Aber ach, das war leichter gesagt als getan. Ihm zitterten die Finger, unkontrollierbar. Um ein Haar hätte er die Kamera fallen lassen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt! In der Kammer stellte er hastig das Gerät ab und ballte die Hände zu Fäusten, bis endlich die Anspannung nachließ und das vermaledeite Zittern aufhörte.

      Vorsichtig nahm er die Glasplatte aus ihrer Kassette und übergoss sie mit einer Eisensulfatlösung. Er fixierte das gläserne Negativ und löste das enthaltene Silberiodid und das Silberbromid mit einer Natriumthiosulfatlösung heraus. Danach wusch er die Platte vorsichtig und überzog sie mit einem Alkoholfirnis. Ein erster Blick darauf zeigte ihm die zusammengesunkene, regungslose Gestalt von Miss Westray. Ein Albuminpapierabzug würde ähnlich aussehen als Positiv in bräunlichen und weißen Tönen.

      Eine Post-Mortem-Abbildung. Wenn Kinder oder ältere Menschen starben, machten sich manche Angehörige – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – die Mühe, eine Abbildung der Verstorbenen erstellen zu lassen, bevor die Verwesung einsetzte und der Leichnam den Weg alles Irdischen ging. Das war gängige Praxis, auch sein Vater hatte solche Bilder angefertigt. Clarence selbst scheute davor zurück. Im Krieg hatte er so viele Leichen, so viele Tote gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Und nun saß ein Leichnam auf dem Stuhl in seinem Atelier …

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       Kapitel 2 – MABEL

      Mabel wischte sich über das verweinte Gesicht. Die Tränen waren ihr peinlich, draußen vor den Leuten, aber wohin sollte sie sonst mit ihrer Trauer? Unfassbar, dass Miss Westray aus dem Leben geschieden war. Über gemeinsame Bekannte, die Porters, hatte sie die junge Frau kennengelernt. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie hatten einmal über Mabels Familie gesprochen, und bei allen weiteren Treffen hatte sich Miss Westray nach ihren Angehörigen erkundigt

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