Post mortem. Amalia Zeichnerin

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Post mortem - Amalia Zeichnerin Baker Street Bibliothek

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der vor rund acht Jahren eröffnet worden war und zwei verschiedene Bahnlinien bediente. Zahlreiche Passanten strömten aus dem Bahnhofsgebäude. Die meisten von ihnen waren dunkel gekleidete Männer mit Zylinderhüten oder Mützen, dazwischen vereinzelt Frauen, die farbenfroher gekleidet waren. Vor dem Eingang versuchte ein Zeitungsjunge, der eine zerschlissene graue Strickmütze trug, seine Ware anzupreisen, allerdings war er heiser und hatte es sichtlich schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Mann mit einem Koffer und einer Zeitung unter dem Arm drängte sich an Mabel vorbei. Es roch nach Ruß und Rauch und von irgendwoher wehte ein fauliger Gestank zu ihnen herüber. Die Feuchtigkeit des kalten Herbsttages kroch Mabel in die Gelenke. Ihre Handschuhe halfen dagegen nur wenig.

      Sie überquerten die Brücke, die über die Eisenbahntrassen führte. Stampfend rauschte eine Bahn heran, deren Räder über das Metall der Schienen ratterten, während sich der aus der Lok hervorquellende Dampf mit dem Grau des Oktobernachmittags vermischte.

      Nachdem sie die Brücke passiert hatten, dauerte es zum Glück nur wenige Minuten, bis sie Clarences Atelier erreichten. Das kobaltblaue Schild mit dem weißen Schriftzug »Fotoatelier Fox« war kaum zu übersehen, selbst an einem so trüben Tag wie diesem. Ihr Mann hatte das kleine hölzerne Schild an der Eingangstür auf »Geschlossen« umgedreht. Durch eines der Fenster konnte sie undeutlich die zusammengesunkene Gestalt der armen Miss Westray sehen, die noch immer auf dem Stuhl saß oder vielmehr hing. Wieder kribbelten ihr die Augen.

      Reiß dich zusammen, Mabel! Jetzt war nicht die Zeit, um zu trauern. Noch nicht.

      »Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte Doktor Tyner ihren Mann, als er das Atelier betrat. Clarence erwiderte den Gruß und fügte dumpf hinzu: »Das ist kein guter Tag, fürchte ich. Ganz und gar nicht.«

      »Ja, natürlich.«

      Der Coroner trat zu der Verstorbenen hinüber und fühlte an der Halsschlagader nach ihrem Puls. Dann blickte er Clarence an. »Würden Sie bitte einmal aus Ihrer Sicht schildern, was geschehen ist, Mr Fox?«

      Clarence wiederholte alles, was er Mabel bereits erzählt hatte. Er sprach schnell, abgehackt.

      Doktor Tyner nickte. »Zeigen Sie mir doch einmal diese Pralinenschachtel«, verlangte er.

      Mabel zog die Schachtel aus Miss Westrays Handtasche.

      Währenddessen fuhr sich Clarence über das Gesicht, ehe er sich wieder dem Doktor zuwandte. »Ich schätze, sie hat eine der Pralinen gegessen und sich daran tödlich verschluckt. Oder …« Er hielt einen Moment inne. »Oder irgendetwas stimmte mit der Praline nicht.«

      Das war in der Tat eine gute Frage.

      »Bromleys …« Doktor Tyner betrachtete die Schachtel von allen Seiten. »Das ist doch eine Konditorei in der Belgrave Road. Meine Gattin – Gott hab sie selig – hat dort früher gelegentlich Kuchen gekauft oder sich mit einer Freundin auf einen Tee getroffen. Die Konditorei gibt es schon ziemlich lange – ein Familienunternehmen, soweit ich weiß.« Er wandte seinen Blick von der Schachtel und sah Clarence fest in die Augen. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich nehme die Pralinen mit ins Labor und untersuche sie. Nur vorsichtshalber.«

      Mabel riss die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes »Oh«, ehe sie zu sprechen begann. »Meinen Sie, die wurden vergiftet?«

      Doktor Tyner runzelte die Stirn. »Zunächst einmal meine ich gar nichts. Lassen Sie uns lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er beugte sich ein weiteres Mal über die bedauernswerte Miss Westray. »Hm. Lippen und Augenlider sind geschwollen. Und dann diese Rötungen. Und sehen Sie hier, diese Quaddeln.« Er deutete auf eine Stelle des Halses, an der sich kleine, unregelmäßig geformte, teilweise punktförmige Erhebungen befanden, die ebenfalls leicht gerötet waren.

      »Ich denke, einen Erstickungstod durch Verschlucken können wir wohl ausschließen.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das sind jedenfalls keine Anzeichen, die bei einer Erstickung durch Verlegung der Luftwege entstehen. Ich musste gerade an Mumps denken, aber dabei treten Schwellungen eher im Bereich der Wangen auf, allerdings natürlich nicht binnen Sekunden. Mumps können wir also ebenfalls ausschließen.«

      Doktor Tyner wirkte nachdenklich. »Wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie den Tod festgestellt haben?«, fragte er und setzte sich die Brille wieder auf.

      Clarence zog die silberne Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Etwa eine Stunde.«

      Der Doktor nickte. »Ich habe heute viel zu tun«, erklärte er. »Mrs Fox, würden Sie mich zurück ins Leichenschauhaus begleiten und Miss Westrays Leichnam selbst untersuchen? Oder sind Sie befangen, weil Sie die Dame persönlich kannten?«

      »Nun, also … ich …« Mabel suchte nach Worten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm im Leichenschauhaus half, Obduktionen durchzuführen, zumeist als Assistentin. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, hatte sie sich nach einer Beschäftigung gesehnt, die über die Haushaltsführung hinausging. Im Anschluss an eine Einladung zum Tee bei Doktor Tyner war eines zum anderen gekommen. Sie beide hängten Mabels gelegentliche Betätigung im Leichenschauhaus nicht an die große Glocke, denn im Grunde war es unerhört, dass eine verheiratete Frau überhaupt arbeitete – zumindest in der Mittelschicht, der sie angehörte. So manch einer aus ihrem Bekanntenkreis hätte mit Befremden darauf reagiert. Aber Clarence erlaubte es ihr.

      Die Männer, die im Leichenschauhaus arbeiteten, waren ein Völkchen für sich und akzeptierten sie, denn sie waren froh über die Hilfe. Gelegentlich hatte sie selbst schon unter Doktor Tyners Anleitung Obduktionen durchgeführt.

      Normalerweise hätte sie dem Arzt sofort zugesagt. Angesichts dieser Situation jedoch wütete ein Wirbelsturm aus Emotionen in ihrem Kopf. Immerhin ging es um Miss Westray. Nicht gerade eine enge Freundin, aber doch eine Bekannte. Sie warf einen Blick auf den Leichnam, auf die inzwischen leicht wächserne Haut, und verspürte erneut ein verräterisches Kribbeln in den Augen. Was sollte sie nur tun? Am liebsten wäre sie hinauf in die Wohnung und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Aber was geschehen war, war geschehen. Der Tod hatte Miss Westray zu sich geholt und Tränen halfen der armen Frau nun auch nicht mehr. Aber sie konnte etwas anderes für sie tun. Einen letzten Dienst.

      Mabel erwiderte Doktor Tyners fragenden Blick und fasste sich ein Herz. »Doch, ich denke, ich werde dazu in der Lage sein.«

      »Gut«, erwiderte er. »Ich kümmere mich darum, dass der Leichnam so schnell wie möglich ins Leichenschauhaus gebracht wird. Später informiere ich die Kollegen vom Polizeirevier. Wir können dann mit dem Leichenwagen direkt mitfahren. Möchten Sie sich dafür umziehen, Mrs Fox?«

      »Nein, das hier wird gehen.« Sie deutete auf ihr Kleid, das aus vier Teilen bestand – das graue geknöpfte Oberteil aus Leinen mit den am Saum aufgestickten Blüten, der hinten leicht aufgebauschte Rock in einem anderen Grauton, die etwas hellere Rockschürze, die darüber getragen wurde, sowie der Unterrock. Es war eines ihrer schlichteren Ensembles und schon etwas älter. Sie hatte es mehrfach geändert, um es an die neue Mode mit der Tournüre anzupassen, deren Silhouette in diesem Jahr vergleichsweise schmal war; weniger voluminös als in den Jahren zuvor.

      »Gut, dann sehen wir uns gleich, ich beeile mich«, erwiderte der Coroner, legte grüßend zwei Finger an seinen Bowler und verließ das Atelier.

      Während das Läuten der Türglocke verklang, wandte sich Mabel an Clarence. Sie griff nach seiner Hand, streichelte seinen Handrücken, eine Geste des Trostes. Er blickte sie traurig an und drückte leicht ihre Finger. »Hast du die Abbildung entwickelt?«, fragte sie ihn.

      »Ja,

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