Die extreme Mitte. Tariq Ali

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Die extreme Mitte - Tariq  Ali

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Der Staat muss auf die eine oder andere Weise in den Besitz eines sehr großen Teiles des Landes und des Kapitals kommen. Das ist vielleicht keine beliebte Politik, aber wenn sie nicht verfolgt wird, wird die beliebte Politik der verbesserten sozialen Dienstleistungen unmöglich werden. Man kann Konsumgüter nicht auf die Dauer sozialisieren, wenn man zuvor nicht die Produktionsmittel sozialisiert hat.

      Die Regierenden dieser Welt werden in diesen Worten kaum mehr als den Ausdruck von Utopismus sehen, aber sie irren sich. Denn eben dies sind die Strukturreformen, die wirklich notwendig sind, und nicht die, die die EU vorantreibt. Notwendig ist eine vollkommene Kehrtwende, der das öffentliche Eingeständnis vorausgeht, dass das Wall-Street-System nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte und deshalb aufgegeben werden muss.

      Das gaullistische Frankreich wollte, dass die Europäische Union eine neutrale Kraft werde und einige in Deutschland wollten dasselbe. Viele in der Europäischen Union entwickelten langsam die folgende Idee: Wenn sich Europa zu einer Großmacht entwickeln würde, dann könnte es im Kalten Krieg zwischen Russen und Amerikanern vermitteln. Es könnte sich mit einer eigenständigen Politik, eigenständigen Positionen und einer eigenständigen Gesellschaftsorganisation selbstständig machen.

      Aber schon bald geschah das Unvermeidliche: Die vom deutschen Kanzler Konrad Adenauer General de Gaulle schon in den 1950er-Jahren vorhergesagte Wiedervereinigung Deutschlands veränderte das Gesicht Europas noch einmal. Das wiedervereinigte Deutschland wurde zur Europa dominierenden Macht, und trotz ihrer falschen Bescheidenheit freute sich die deutsche Elite, wieder ins Rampenlicht zu treten. Die Vereinigten Staaten erkannten, dass die einzige Möglichkeit, Europa jetzt daran zu hindern, zu mächtig zu werden, darin bestand, die Union zu verwässern und zu erweitern, und das machte eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Vereinigung unmöglich.

      Die USA wussten schon immer, dass die Wiederbelebung dieser Volkswirtschaften früher oder später bewirken würde, dass diese Länder mit ihnen in Konkurrenz träten, zumindest an der Wirtschafts- und Handelsfront. Die Vereinigten Staaten waren bereit gewesen, dieses Risiko auf sich zu nehmen, denn, solange die Sowjetunion bestand, schien es keinen anderen gangbaren Weg zu geben, das angeschlagene kapitalistische Nachkriegssystem zu stützen. Doch als die Sowjetunion sich selbst zerstörte und in ihre Teile zerlegt wurde, entstanden neue, zum Teil politische, zum größten Teil aber soziale und wirtschaftliche Probleme. Mit dem Sieg Hayeks und der Chicagoer Schule wurde das geboren, was dann als Neoliberalismus bekannt wurde.

      Dementsprechend begann die Europäische Union die Sozial- und Wirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsstaaten zu bestimmen. Dies bedeutete das Ende der staatlichen Kontrolle von Industrien und den langsamen, aber unaufhaltsamen Abbau des Sozialstaates, denn der Markt drang nun in die bis dahin heiligsten Bereiche der Bereitstellung von Sozialleistungen ein.

      Als 2008 die Krise ausbrach, bewirkte sie die reine Panik in den EU-Zentralen. Panik in Berlin. Panik in Paris. Panik in London. Was sollten sie tun? Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler behaupteten, nun sei die Zeit gekommen, eine Form des Keynesianismus wieder einzuführen, um die Wirtschaft anzukurbeln, und das taten die Vereinigten Staaten in gewissem Maße. Anders jedoch Europa, denn Europa hatte zu viel ausgegeben, es stand sozial, wirtschaftlich, ideologisch zu viel auf dem Spiel, als dass ihm diese Wende möglich gewesen wäre. Stattdessen bekamen wir die von Berlin beschlossenen und von allen Regierungen der Europäischen Union unterstützten Sparmaßnahmen: Je ärmer das Land, desto feiger waren seine Führer.

      Die Europäische Union steht heute einer ziemlich großen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise gegenüber. Deren einzige Lösung ist die Bestrafung der Opfer. Die extreme Mitte der meisten Mitglieds­staaten plädiert dafür, dass dies geschieht und dass Oppositionen zerschlagen werden – es sei denn, sie tauchen auf der rechten Seite auf.

      Bis die Blase wieder platzt, kann sie ignoriert werden, es sei denn, es käme zu einer großen Revolte von unten. Was die Regierenden in Europa betrifft, so ist für sie alles schon beigelegt, das Problem ist mehr oder weniger gelöst. Diejenigen, die den Zusammenbruch des Euro vorausgesagt hatten, haben sich offensichtlich geirrt. Solange die deutschen Banken glücklich sind, sind die Eliten glücklich. Sie denken, es sei ihnen gelungen, das System zu beherrschen. Aber aus der Perspektive der angeschlagenen Parlamente von Athen und Madrid und angesichts geschlossener Geschäfte, verbarrikadierter Gebäude und vernagelter Häuser in Lissabon und Dublin sind die Aussichten nicht so rosig. Selbst in den blühenden Metropolen London, Paris, Brüssel, Mailand und Frankfurt gibt es dunkle Ecken, die dem Blick der Öffentlichkeit verborgen bleiben. In diesen ärmeren, von Migranten, Arbeitslosen und Obdachlosen bewohnten Vierteln geht das Leben weiter und es gibt sogar ein Gemeinschaftsgefühl, das es anderswo in Großstädten nicht gibt, aber die Probleme des täglichen Lebens lassen wenig Zeit für Entspannung.

      Für die von der Troika regierten EU-Länder ist die gemeinsame Währung zu einer Fessel geworden, die mehr als die Hälfte der Eurozone an eine permanente Rezession kettet. Griechenland ist in die Armut gestürzt, seine Wirtschaft ist um ein Fünftel geschrumpft, die Löhne sind um 50 % gesunken, die Jugendarbeitslosigkeit ist groß: Zwei Drittel der jungen Menschen sind arbeitslos. Die Erfahrungen der Spanier sind nicht besser: Von der Rente der Großeltern oder von einem einzigen Gehalt müssen in vielen Fällen drei Generationen leben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 26 %, die Löhne werden nicht ausgezahlt, der Lohn für Gelegenheitsarbeit ist in Spanien auf zwei Euro pro Stunde gesunken.

      Italien befindet sich nach einem Jahrzehnt der wirtschaftlichen Stagnation seit einigen Jahren in einer Rezession. Nun sind 42 % der jungen Italiener ohne Arbeit. In Portugal mussten Zehntausende kleine Familienunternehmen, die jahrzehntelang das Rückgrat der portugiesischen Wirtschaft bildeten, ihren Laden dichtmachen. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen hat keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Und Irland: Wieder einmal haben die Jungen, die Besten und Klügsten der Nation das Land verlassen. Damit wiederholt sich traurigerweise die Auswanderung, die dazu beigetragen hat, Irland jahrzehntelang in Konservatismus und Unterentwicklung einzusperren.

      Die Europäische Union ist das Instrument des Ministerrates. Diese Minister sind von ihren Ländern in ihren Parlamenten gewählte Regierungsvertreter und bestimmen alles. Darum ist das Demokratiedefizit in der Europäischen Union riesig. Das Europäische Parlament hat in Wirklichkeit überhaupt keine Macht – abgesehen von der, den Präsidenten der Europäischen Union zu wählen, der ebenso wenig Macht hat. Die Macht wird immer noch von den einzelnen Staaten ausgeübt, aber wenn der eine oder andere ausfallen sollte, ist das auch kein Problem. Deutschland spielt als reichster und größter Staat der EU bei der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik heute die Hauptrolle. Wenn die deutschen Bankiers Sparmaßnahmen wollen, sorgen die mit ihnen im Bunde stehenden Politiker dafür, dass ihre Forderungen erfüllt werden, denn im Grunde sind sie eine Bankier-Gemeinschaft. Die Eliten haben aus der EU ein System gemacht, das ihren Interessen dient. Sie ist eine Wirtschaftsunion, die eine Wirtschaftspolitik durchsetzt, und sie ist keine soziale oder politische Union.

      Kurz gesagt, jene Europäische Union, die aus dem langen und abenteuerlichen Kampf um den Schutz des Euro hervorgegangen ist, ist ihrem Wesen nach eher autokratisch, autoritär, deutsch-dominiert und rechtsgerichtet und entbehrt jeglichen ausgleichenden Charmes. Die Euro-Zone dehnt sich weiter aus. Kroatien ist 2013 der EU beigetreten. Im Jahr 2011 führte Estland und 2014 Lettland den Euro ein. Jedoch hat die neue Ordnung ein Ad-hoc-Wirtschaftsdirektorat hervorgebracht, das nur im Notfall legitim wäre.

      Dieses Direktorat wurde als Troika bezeichnet. Es hat keinen offiziellen Namen, wurde aber im April 2010 zusammengestellt, um als Voraussetzung für den ersten Kredit die Führung der griechischen Wirtschaft zu übernehmen. Die Troika setzt sich im Wesentlichen aus Bürokraten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds zusammen. Mit der Zeit regierte sie Portugal, Irland, Zypern und Griechenland. Und sie gehört auf Dauer zum europäischen Stabilitätsmechanismus. Die Troika gibt Absichtserklärungen nach demselben Muster wie der IWF heraus, die den Mitgliedsstaaten jedes Detail der Regierungsprogramme diktiert.

      Jede

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