Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Jetzt geht sie, und auch wenn es in der Dunkelheit nur schlecht zu erkennen ist, sie geht zügig. Es ist der typische Gang einer Frau, die innerlich repetiert: ›Egal wie schlimm es wird, das muss ich jetzt machen.‹

      »Die Tür schließt er nie ab«, erklärt Nina, und Yvonne nickt, als wäre diese Bemerkung völlig in Ordnung. Sie lässt sich von Nina ein paar Gartenhandschuhe geben und streift sie über. Kein Widerspruch, keine Frage. Das ist ungeheuerlich! Noch vor einer Stunde hörten sie Sex Bomb von Tom Jones, jetzt stehen sie vor der Tür eines Mannes, der eben durch eine von ihnen ums Leben gekommen ist, und ziehen sich klobige Gartenhandschuhe an. Solche aus Leder, wie normalerweise Männer sie tragen. Yvonne nimmt es hin, dass ihre Freundin einen großen Schraubenzieher am Schloss ansetzt, um es aufzuhebeln.

      Doch dann zögert Nina. Warum? Yvonne weiß es nicht, niemand würde darauf kommen.

      Nina Havelot sieht vor ihrem inneren Auge ein Klavier. Und die damit verbundenen Gedanken bewirken, dass ihr Tränen in die Augen schießen, dass sie anfängt zu zittern und den Schraubenzieher nicht in den Schlitz zwischen Türblatt und Rahmen bekommt, dass sie absetzen muss, dass sie sich umdreht und … Jetzt endlich nimmt Yvonne ihre Freundin in den Arm und hält sie. Auch ihr selbst ist zum Heulen zumute. Weil Michel ja ein Freund war. Weil niemand vorhatte, ihn zu töten. Und genau das sagt sie dann auch.

      »Ich wollte es nicht.«

      »Wir wollten es beide nicht.«

      Der kurze Dialog gibt Nina die Kraft, die sie braucht, sie kriegt den Schraubenzieher in den Schlitz.

      Wie professionell sie vorgehen. Nina hat, kaum, dass sie im Haus sind, die Vorhänge zugezogen und Yvonne eine der beiden Taschenlampen gegeben. Schubladen werden durchsucht.

      Sie handeln einvernehmlich. Bis jetzt ist noch keine von ihnen auf den Gedanken gekommen, die andere könne mehr Schuld an Michels Tod haben als sie selbst.

      »Hier«, sagt Nina nach fünf Minuten.

      »Zeig.«

      Wer soll das alles erklären? Die Vorgänge, die Motivlage, die Antriebskräfte. Die beiden sind noch nie irgendwo eingebrochen, und jetzt … Mit einem großen Schraubenzieher die Tür aufgehebelt! An Handschuhe gedacht! An Taschenlampen! Beide haben sich auch noch die Schuhe abgewischt, mit einem Lappen, den Nina mitgebracht hat. Nina! Die betreibt ein kleines Musikstudio und ist dabei, sich als Musikproduzentin zu etablieren. Eine Frau, die mit Musikern an Sounds bastelt. Sie hat einen Sohn, der noch im Krabbelalter ist, eine Mutter, die ihr hilft, das Kind aufzuziehen, und eine unglaublich tolle Espressomaschine, die sie allerdings nur manchmal benutzt, und jetzt … studiert sie zusammen mit Yvonne im Schein einer Taschenlampe einen Vertrag. Geradezu unsinnig. Aber das ist das Bild, mit dem sich die Realität präsentiert.

      Als sie sich neben ihren Autos trennen, sagt Nina: »Danke.« Dann fängt sie noch einmal an zu weinen. Gut, das könnte der nachlassende Druck sein. Sagt dann mit leicht fremder Stimme noch einmal: »Danke.« Und zuletzt etwas klarer: »Du hast mich gerettet, Yvonne. Alleine hätte ich mich das nie getraut.«

      Nur gut, dass Yvonne nicht auch noch sagt: »Gern geschehen.« Aber denkbar wäre es gewesen. In dieser Realität.

      Wie kann man das Groteske ordnen, wie es erklären? Offenbar erzeugen die Umstände Taten. Ob da überhaupt noch von einem Wollen die Rede sein kann? Andererseits: Manche Menschen sind so gemacht, dass sie handeln, wenn sie bis zum Hals in der Scheiße stecken.

      Sie fahren ab. Das Licht ihrer Autos schalten sie erst an, als sie 300 Meter von Michels Haus entfernt sind, die kleinen, hinterhältigen Seelchen.

      Es ist leicht, Leute zu verdammen für Taten, die man nur von außen beobachtet. Um ein vernünftiges Urteil abgeben zu können, müsste man wissen, warum sie das alles getan haben. Ein kategorisches ›Nein!‹ hatte plötzlich in Yvonnes Kopf das Regiment übernommen. Noch im Lacombe. Mehr ist nicht bekannt.

      Was für Schlüsse würde ein Ermittler aus diesem kategorischen Nein einer Frau ziehen? Wenn er gleichzeitig weiß, dass das Opfer ein Mann ist? Hoffentlich keine voreiligen.

      Sie fahren hintereinander. Da es stockfinstere Nacht ist, ergibt sich ein Bild, an dem Liebhaber von Experimental-filmen ihre Freude hätten. Das Bild ist schwarz, und in ihm schweben vier rote Punkte, die, immer paarweise, ein bisschen hin und her pendeln. Natürlich, das sind die Rücklichter. Nach einer Weile könnte niemand mehr sagen, ob sie über- oder hintereinander fahren. Zwei Kilometer, dann kommen die Frauen an eine Stelle, an der die Straße sich gabelt. Dort trennen sich ihre Wege. Und was mit den roten Punktpaaren passiert, versteht sich von selbst.

      Brigadier Resnais bekommt nichts mit von all diesen Ereignissen. Er steht im strömenden Regen neben einem völlig zerstörten BMW 2002 und sieht Feuerwehrleuten bei der Arbeit zu. Die haben gerade beschlossen, den Wagen mit großen Zangen aufzuschneiden, um den Fahrer rauszuholen. Der lebt zwar noch, sieht aber so schrecklich aus, dass Resnais kein zweites Mal hinsieht. Es riecht nach Eisen, Öl und verbranntem Gummi.

      »So kriegen wir ihn nicht raus, der Wagen muss erst mal vom Baum weg«, kommandiert der von der Feuerwehr, der das Sagen hat. Die routinierte Bestimmtheit, mit der er spricht, hilft Resnais, den Unfall als das zu sehen, was er ist. Ein Pech. Der Preis für einen idiotischen Moment.

      ›Wird’s wohl nicht schaffen‹, hat ihm der Notarzt vor zehn Minuten erklärt. Resnais, hoch aufgeschossen, jungenhaft, immer korrekt, dreht sich um, spürt seine neuen Stiefel am äußeren Knöchel und am dicken Zeh. Gleichzeitig trifft unablässig Regen seine Haut, der kommt fast waagerecht, getrieben von Böen.

      Zweihundert Meter die Rue Bisson runter steht ein großes Dieseltier als Schatten mit Blinklicht. Es hat 15 Tonnen Kies geladen, wie der Fahrer ihm vorhin erklärt hat. Mehr als das mit dem Kies und etwas Wirres über einen Feuerlöscher hat Resnais bis jetzt nicht aus dem Fahrer des LKW rausgekriegt.

      »Warten Sie ein bisschen, ehe Sie ihn vernehmen, der steht unter Schock«, hatte der Notarzt geraten.

      Ein lautes Geräusch hinter ihm. Zwei Ketten spannen sich. Ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr beginnt damit, den orangefarbenen BMW vom Baum wegzuziehen. Männer laufen weg, denn der Baum gibt alles her, was er an Regen gespeichert hat, und dazu auch noch Äste und letzte Blätter vom Herbst.

      »Geht es Ihnen jetzt besser? Können Sie eine Aussage machen?«

      »Er wollte mich überholen und hat sich plötzlich gedreht.«

      »Einfach so? Sind Sie vielleicht auf die andere Spur …?«

      »Nein.«

      »Wissen Sie, ob hinter Ihnen einer war? Einer, der ausgeschert ist?«

      »Hab nichts gesehen.«

      »Und nach dem Unfall?«

      Der LKW-Fahrer zuckt mit den Schultern.

      »Sie sind ausgestiegen …«

      »Klar! Um zu sehen, ob er Hilfe braucht, klar.«

      »Dann müssten Sie ja ein Auto gesehen haben, wenn da noch eins war. Oder ist einer an Ihnen vorbeigefahren?«

      »Hab keins gesehen. Der sah so schrecklich aus, und er hat sich bewegt. Den Kopf hin und her, als wollte er ›nein‹ sagen. Der wird sterben, oder?« Nachdem er das gesagt hat, taumelt der Mann ein Stück zurück, muss sich an seinem

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