Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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bereits acht Jahre tot, als sie selbst geboren wurde, und ihre Mutter hatte ihr, ohne an irgendwelche Implikationen zu denken, den Namen der Toten gegeben. Und Klavierunterricht, denn sie war Klavierlehrerin.

      Ein komischer Gedanke macht sich in Ninas Kopf breit: Vielleicht wäre alles, was in dieser Nacht geschehen ist, nicht so passiert, wenn ich nicht musikalisch begabt wäre, wenn Mutter mich bei Familienfeiern nicht hätte vorspielen lassen, wenn sie nicht immer wieder gesagt hätte: ›Wie meine Schwester …‹

      Nina hat, seit sie mit dem Klavier begann, eine sonderbar kalte innere Haltung entwickelt. Nicht, dass sie anderen Menschen gegenüber kalt wäre, nein, sie ist sogar ziemlich lustig, wirkt auf Außenstehende verspielt und manchmal auch ein bisschen verwirrt. Aber das täuscht. Sie kann sich mühelos von sich selbst distanzieren. Man könnte auch sagen, sie ist extrem diszipliniert. Nur hat sie zum Leidwesen ihrer Mutter kein besonderes Faible für die Oper oder große Orchesterwerke entwickelt. Ein paar Jahre Keyboard in verschiedenen Bands, aber das war es nicht. Denn es gibt noch etwas, das zu ihr gehört. Etwas, das weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Tante zusammenhängt. Nina hat eine Schwäche für Geld.

      Also ist sie Musikproduzentin geworden, und seit zwei Jahren läuft es.

      Irgendwann steht sie auf, räumt ein paar Kinderspielzeuge zusammen und verlässt ihr Studio. Sie geht nach unten und legt sich ins Bett. Im Licht ihrer Nachttischlampe, in der Sekunde, bevor sie die ausmacht … Ein kurzes Erschrecken.

      ›Michel ist tot.‹

      Was für eine Verzögerung. Was für eine ungeheuerliche Verzögerung. Es hat fast vier Stunden gedauert, bis Yvonnes Satz in ihrem Bewusstsein angekommen ist.

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      Wenn all diese Grautöne eine Färbung haben, dann geht sie ins Grünliche. Die Qualität der Farbe unterstreicht, dass es sich um das Dienstzimmer eines Staatsbeamten handelt, einen Raum der geregelten Vernunft.

      Eine Weile steht das Bild in vollkommener Stille. So bleibt Zeit, alles in Ruhe zu erkennen und zu überprüfen. Wie es ein Inspizient oder ein Requisiteur tun würde, kurz bevor das Publikum eingelassen wird. Nun, es ist keine Bühne. Auf Ohayons Schreibtisch liegen Papiere, der Blick aus dem Fenster, das eine komplette Wand einnimmt, wäre fesselnd, wenn der konstant und dicht fallende Regen nicht alles eintrüben würde.

      Die Tür öffnet sich, es ist der Staatsbeamte.

      »Dann auf ein Neues …«, begrüßt Ohayon den anstehenden Arbeitstag ergeben und hängt seinen klatschnassen Blouson auf einen Kleiderhaken. Nachdem das erledigt ist, reibt er sich die Hände, eine Geste, die möglicherweise Vorfreude ausdrückt, und geht dabei zielstrebig zu seinem Gummibaum. Er prüft, wie feucht die Erde ist, weil man ihm mal gesagt hat: ›Nicht zu trocken, nicht zu nass!‹

      Er muss nicht gießen. Also blickt er ein paar Sekunden aus dem Fenster. Schließlich entsteht vor der einlullenden Dumpfheit des Regens eine sinnliche Vorstellung, die ein kleines Gefühl schönster Vorfreude, ja sogar eine Geruchsimagination auslöst. Ohayon befüllt also seine Kaffeemaschine und schaltet sie ein, denn jede Arbeit braucht einen guten Beginn.

      Während die Maschine anfängt zu spucken, setzt sich Ohayon an seinen Schreibtisch und beginnt damit, die Unterlagen des Vorgangs Friseur zusammenzustellen, um die Sache in den nächsten Tagen an die Kollegen in Metz zu übergeben. Während er das tut, hat er das Bild der Kantine der Gendarmerie vor Augen und denkt an Pasta mit Meeresfrüchten.

      Die Tür geht auf, Brigadier Resnais tritt ein. Wie immer exakt in seinen Bewegungen und etwas nachlässig in der Art, wie er redet.

      »Wir hatten letzte Nacht einen ziemlichen Crash in der Rue Bisson. Nur ein Auto, der Fahrer saß allein drin und … du weißt ja, wie die aussehen, wenn sie seitlich auf einen Baum aufprallen.«

      »Schrecklich?«

      »Der Mann ist eine halbe Stunde nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Den Unfallwagen hat Marie herbringen lassen. Sie meint, du sollst dich da mal umsehen«, Resnais legt ein dünnes Dossier auf Ohayons Schreibtisch. »Maries Zwillinge haben Lacksplitter auf der Straße gefunden. Es könnte eine Kollision gegeben haben. Also eine Kollision noch vor der Stelle, wo er sich dann gedreht hat.«

      »Was ist denn überhaupt passiert?«

      »Ein BMW wollte einen Laster überholen, hat plötzlich angefangen, sich zu drehen, und ist dann seitlich gegen einen Baum geprallt. ›Kam angerast wie ein Irrer‹, hat der Fahrer des Lastwagens gesagt.«

      Ohayon beginnt, den Bericht zu studieren, und Resnais fällt auf …

      »Du siehst müde aus. Gestern noch lange gefeiert?«

      »Auf dem Bahnhof? Nein, wir hatten ja die Kinder dabei. Wir sind gleich nach dem Feuerwerk gegangen.«

      »Und? Wie gefällt er dir, unser neuer Bahnhof?«

      »Schick. Ein riesiger Würfel aus Glas. Aber das Tollste sind natürlich die Farben. Ich weiß nicht, wie die das machen, in den Glasscheiben entsteht Licht, und das wechselt dann die Farbe. Sieht ein bisschen aus wie ein Zauberwürfel. Kennst du die noch?«

      »Du magst das Moderne?«

      »Absolut.«

      »Hätte ich nicht gedacht.«

      »Aber die Leute. Die Leute … Ich hatte das Gefühl, dass denen das nicht mehr gefällt, dass bei uns alles so schick daherkommt und dass so viel gebaut wird. Du hättest sehen sollen, wie die geguckt haben! So in der Art von: ›Wollen wir nicht.‹ Sogar als unser Bürgermeister seine Ansprache gehalten und gesagt hat, dass da ab nächstem Jahr der TGV hält und man in zwei Stunden in Paris ist, haben sie rumgemuffelt. Und der Pfarrer hat sich natürlich auch wieder eingemischt und gesagt, Fleurville wäre jetzt Babel. Aber das Feuerwerk war klasse, Florence hat sich riesig gefreut.«

      »Das ist das Wichtigste. Aber weißt du, was komisch ist?«

      »Na?«

      »Dass Monsieur Descombe so spät zum Überholen angesetzt hat, so kurz vor der Einmündung in die Rue Belleville. Das konnte er kaum noch schaffen. Das sagt auch Marie.«

      »Monsieur Descombe war der Fahrer?«

      »Auf den ist der Wagen jedenfalls zugelassen. Er hatte keine Papiere dabei, und ihn wiederzuerkennen, so wie er aussah … Die Zwillinge haben ihn ein bisschen hergerichtet, da kommt nachher jemand, um ihn zu identifizieren.«

      Ohayon kennt die Rue Bisson. Die Straße hat den Charakter einer Allee und beginnt an einem Kreisverkehr nicht weit vom Centre Fleur entfernt. Sie ist etwa einen Kilometer lang und beschreibt einen gestreckten Bogen. Nach 500 Metern zweigt ein Feldweg ab.

      Dort steht ein Mann, der sich genau jetzt, da Ohayon den Feldweg vor Augen hat, auf diesem Feldweg aufhält und ihn inspiziert. Es ist einer von Maries Zwillingen, ein gut ausgebildeter Fachmann der Spurensicherung. Er hat eine Art Zelt aufgebaut, und seine Kapuze vorne so eng zusammengezogen, dass sein Gesicht kaum noch zu sehen ist. Gerade deckt er die Plane auf, die während der Nacht eine undeutliche Spur geschützt hat. Er wird die Spur fotografieren und ausmessen. Sein Gesicht zeigt, genau wie das von Ohayon, den Ausdruck stabiler Konzentration und innerer Ruhe, denn er ist ein Mann, der exakt das tun wird, was er sich vorgenommen hat. Niemand wird ihn dabei unterbrechen, ablenken oder vorschlagen, dass er auch anders vorgehen könne. Das

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