Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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guter Standardsatz, denn die Erinnerung, wenn sie berichten soll, neigt zum Besonderen, Unwichtiges wird gerne übersprungen.

      »Also gut, ich fuhr hier, und ich habe die Angewohnheit, immer mal in den Rückspiegel zu gucken. Und da sah ich, dass ein Wagen extrem schnell von hinten rankam. Scheinwerfer voll aufgeblendet. Aber ich hab nicht weiter darauf geachtet. Ich nahm den Fuß vom Gas und fing an runterzuschalten. Dann hörte ich ein Geräusch, und als ich in den Rückspiegel …«

      »Moment. Das Geräusch. War das eine Kollision?«

      »Das Quietschen seiner Reifen, als er sich gedreht hat.«

      »Vorher kein Geräusch.«

      »Nur das Gequietsche. Aber da war er noch zwanzig Meter hinter mir. Dann ist er mit der Seite in den Baum, und da dachte ich: ›Scheiße, den hat’s erwischt.‹ Da hab ich dann meinen Kipper voll abgebremst. Ein Reflex, verstehen Sie?«

      Ohayon nickt.

      »Ich dachte, dass ich was tun muss, dem helfen und den Krankenwagen rufen. Es dauerte aber eine Weile, bis ich stand, weil …«

      »… 15 Tonnen Kies. Warum eigentlich noch um die Uhrzeit?«

      »Zeit ist Geld. Meinen Sie, die hören nachts auf zu bauen? Ich bin raus und hin zu dem Auto und hab da auch schon die Feuerwehr angerufen, und die sagten, sie informieren die Gendarmerie und das Krankenhaus. Ach ja, den Feuerlöscher hatte ich auch dabei. Nicht einfach, den loszukriegen, hab mich noch an der Plombe verletzt. Hier, sehen Sie?«

      »Wo ist der Feuerlöscher befestigt?«

      »Im Fußraum, auf der Beifahrerseite.«

      »Da haben Sie sich reingebeugt und … Wie lange?«

      »Bis ich ihn los hatte? Was weiß ich? Jedenfalls bin ich dann hin, so schnell ich konnte. Aber der Wagen brannte nicht. Der war nur ganz zerquetscht und hatte sich um den Baum gewickelt. Es roch nach Gummi und Eisen. Hätten Sie gedacht, dass man Eisen riechen kann?

      »Oh ja.«

      »Da saß einer drin, der war so kaputt, das werd’ ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich hab trotzdem versucht, mit ihm zu reden, weil sein Kopf sich plötzlich bewegte. Hin und her ging der, als wollte er ›nein‹ sagen. Der war noch nicht tot. Aber er hat nicht geantwortet. Also bin ich einfach dagestanden, mit entsichertem Löscher, falls der Wagen doch noch anfängt zu brennen. Aber den Mann richtig angucken, das konnte ich nicht mehr, das war zu schlimm, da war kein Gesicht mehr. Die ihn dann rausgeholt haben, die von der Feuerwehr: Respekt. Zwei von denen waren höchstens zwanzig. So war das. Ich stand mit einem Fuß die ganze Zeit im Schlamm, in einer Pfütze, die sich da gebildet hatte, wo der Asphalt aufhört. Richtig tief drin, ich hatte einen klatschnassen Socken. Hab ich erst viel später gemerkt.«

      »Verstehe.«

      Ohayon will den Mann entlassen. Doch bevor er das tut, blickt er sich um. Er sieht etwa 500 Meter entfernt die Einmündung der Rue Bisson in die Rue Belleville, dann einen von Pappeln umstandenen Bauernhof, der etwa 150 Meter von der Straße entfernt liegt, und zuletzt das andere Ende der Rue Bisson.

      »Kommen Sie.«

      Sie gehen die Straße hoch, Richtung Kreisverkehr. Dabei kommen sie an einem von Marie Greniers Zwillingen vorbei, der gerade eine Fotoausrüstung in seinem Fahrzeug verstaut.

      »Also, noch mal.«

      »Was noch mal? Hier am Kreisel ist doch gar nichts passiert.«

      »Na, hier sind Sie doch in die Rue Bisson abgebogen. Von wo kamen Sie denn?«

      »Na, von da, vorbei am Centre Fleur, Rue Jesse Owens.«

      »Sie fahren also auf den Kreisel zu. Es ist kurz nach acht, es ist schon ziemlich dunkel. Aber da sind ja noch ein paar unterwegs. Da haben Sie doch sicher noch andere Autos gesehen. Ich meine, bei einem Kreisverkehr müssen ja alle aufeinander achten, wenn sie sich einfädeln.«

      Eine Weile passiert nichts, außer dass der LKW-Fahrer konzentriert nachdenkt.

      »Stimmt«, sagt er schließlich. »Weil ich immer nur an den Unfall gedacht habe und an die Rue Bisson.«

      »Ja?«

      »Na, wie Sie sagten, ich musste ja in den Kreisel erst mal reinfahren, und da muss ich runterschalten, bremsen … Aber da hat mich einer reingelassen. Ich dachte noch, ›der weiß, wie das ist, mit einem Laster voll Kies‹. Der hat mich vorgelassen, so dass ich nicht bis auf null abbremsen musste. Aber ob der dann hinter mir gewesen ist, in der Rue Bisson …?«

      »Was für ein Wagen war das?«

      Es dauert wieder ein bisschen, dafür kommt es dann ganz entschlossen: »Keine Ahnung.« Dann noch mal entschlossen: »Ach doch! Rot war der! Ich glaube, ein älteres Auto, ein BMW oder so.«

      Genau in diesem Moment fährt ein Peugeot-Kombi von der Gendarmerie an ihnen vorbei. In ihm sitzt einer der Zwillinge. Er hat es eilig, denn er will seinem Kollegen bei der Obduktion eines Elektrikers assistieren.

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      Sie hat gerade so böse an ihn gedacht. Sie könnte die Tat glatt noch mal begehen.

      Yvonne Clerie sitzt seit 45 Minuten auf einem bequemen Stuhl, als ihr diese schlimmen Gedanken kommen. Der Mann ihr gegenüber hat zum Glück nichts gemerkt. Er ist ihr letzter Patient. Später wird nur noch ein Drogenabhängiger kommen, einer, bei dem es mit Reden allein nicht mehr getan ist.

      Der Mann, der ihr seit 40 Minuten erzählt, warum sein Leben sich so entwickelt hat, dass er jetzt Hilfe braucht, ist weit davon entfernt, Drogen zu nehmen. Es sei denn, man bezeichnet drei Gläser Wein – aber erst abends! – als Drogenproblem. Seine Geschichte unterscheidet sich weniger von den Geschichten anderer, als er glaubt. Letztlich besteht das Problem darin, dass er sich nicht traut, eine Gehaltserhöhung zu fordern. Von da aus hat er in den letzten Monaten ein Selbstbild konstruiert, das darauf hinausläuft, dass er sich viel zu vieles im Leben nicht traut. Im Zuge seiner Amateuranalyse hat er die Welt, wie er sie sieht, so kompliziert gemacht, dass er seit einiger Zeit nicht mehr schlafen kann. Deshalb sind aus den drei Gläsern Wein inzwischen auch schon mal vier geworden.

      Fachlich ausgedrückt: Routine.

      Routine war es auch bei Maries Zwillingen. Gerade verlassen sie mit hochgeschlagenen Kapuzen die Gendarmerie, und einer von ihnen erzählt von seinem letzten Skiurlaub in den Bergen. Pulverschnee. Er war wegen des Elektrikers drauf gekommen, weil das Wort ›Eisangeln‹ ein paar Mal gefallen war. Ohayon grüßt mit einer knappen Bewegung der Hand, als er auf dem Parkplatz der Gendarmerie ihren Weg kreuzt. Er hat noch eine Vernehmung vor sich, vor seinem inneren Auge steht das Bild eines pappelumstandenen Bauernhofs.

      Nachdem der Patient gegangen ist, wartet Yvonne auf ihren Spezialfall. Ob er überhaupt kommen wird? Ihre ehrenamtlichen Spezialfälle sind nicht immer zuverlässig, und dass sie vor zwei Jahren begonnen hat, sich um diese Menschen zu kümmern, war möglicherweise ein Fehler. Denn es kommen immer mehr. Irgendwann könnte mal einer darunter sein, der gefährlich ist. Gleichzeitig weiß Yvonne, dass einige von denen, die bei ihr Hilfe suchen, möglicherweise unter unwürdigen Umständen zugrunde gehen werden, wenn sie ihnen nicht hilft und ihr Leid beendet. Einige von denen, die zu Yvonne kommen, sind nicht mehr in der Krankenkasse, manche leben

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