Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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du dir die Unfallstelle noch mal ansehen?«, fragt Resnais, da Ohayon bereits zwanzig Sekunden schweigt, »oder legen wir die Sache zu den Akten? Du musst das entscheiden.«

      Ohayon hat nur halb zugehört, denn nachdem er den Verlauf der Straße imaginiert hat, ist ihm ein Gedanke gekommen.

      »Der LKW-Fahrer hat dir gesagt, Monsieur Descombe wäre wie ein Irrer von hinten auf ihn zugekommen?«

      »Ja.«

      »Also ein Raser.«

      »Sieht so aus.«

      »Du kannst mal Folgendes machen …«

      »Telefonieren?«

      »Ich möchte wissen, seit wann Michel Descombe seinen Führerschein hat, ob er früher schon in Unfälle verwickelt war, rote Ampeln überfahren hat, oder … Sein Verhalten im Verkehr eben.«

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      Er wird sich später daran erinnern, dass er zwei Einkaufstüten, eine gefüllt mit Pfandflaschen, in Händen hielt, als der Anruf kam.

      »Michel tot? – Nein.«

      Alain erschrickt in einem Maß, dass er der Frau vom Sozialdienst dreimal widerspricht. Er wird fast wütend, als sie ihn bittet, den Toten zu identifizieren.

      Alains Frau ist schon früh am Morgen zu ihrer Schwester nach Nancy gefahren, er kann mit niemandem reden.

      Seine Hand geht ein Stück hoch, Richtung Mund. Bilder einer Leichenhalle tauchen auf, Bilder, die er nur aus dem Fernsehen kennt. Eine totale Fälschung. Selbst der Begriff ›Leichenhalle‹ ist falsch. Er blendet die Bilder aus und verhält sich tapfer. Eben wie ein Freund. Das muss jetzt gemacht werden. So schlimm es auch ist.

      Bevor Alain das Haus verlässt, um zur Gendarmerie zu fahren, stellt er sich vor den Spiegel im Flur und überprüft den korrekten Sitz seiner Kleidung. Dabei sieht er vor seinem inneren Auge das Bild eines aufgesprungenen Kofferraums, aus dem ein Geist herausflattert.

      Kann man Alains Kofferraumbild mit der Klaviererinnerung von Nina vergleichen? Haben der Schock und die beginnende Trauer bei Alain und Nina etwas ausgelöst, das am Ende gar nichts mit dem Unfall zu tun hat? Neigen die kleinen Seelchen dazu, sich auf diese Weise der Realität zu entziehen? Schwer zu sagen. Freude ist viel leichter darzustellen als Trauer, denn zur Freude gehört, dass sie sich offenbaren will. Trauer dagegen will sich verbergen und manchmal sogar betrügen.

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      Ohayon ist aufgebrochen, um den Lastwagenfahrer noch mal zu befragen, Maries Mitarbeiter baut das Zelt ab, das er über der Spur auf dem kleinen Feldweg aufgestellt hatte, Marie unterhält sich am Rand eines Sees mit einem Förster, neben dem Förster sitzt ein hechelnder Hund, der heute schon eine Belohnung bekam, Alain Chartier betritt die Gendarmerie.

      Obduktion, Gerichtsmedizin, da muss er hin. Alain fährt mit dem Fahrstuhl nach unten, in merklich kühlere Regionen. Als er den Raum betritt, in dem die Toten untersucht werden, ist Marie Grenier nicht da. Die hat noch am Feensee zu tun. Aus dem hat man am Morgen die Leiche eines alleinstehenden Elektrikers geborgen. Der Mann war bereits Mitte Januar als vermisst gemeldet worden. Im Grunde waren die Umstände seines Todes schon zwei Tage später geklärt, da ein Nachbar und der Bruder ausgesagt hatten, er ginge manchmal zum Eisangeln. Und tatsächlich: Neben dem Loch, das er gebohrt hatte, war das Eis eingebrochen. Sie hatten damals Taucher runtergeschickt. Ohne Erfolg.

      Um Spaziergängern einen schrecklichen Fund zu ersparen, hatte sich der Förster bereit erklärt, sobald das Eis weg war, jeden Morgen den See zu umrunden. Heute hatte sein Hund angeschlagen. Einer von Maries Zwillingen ist gerade dabei, die stark aufgeblähte Leiche des Elektrikers abzuspülen.

      Alain tritt vorsichtig näher.

      Der Tote, der gewaschen wird, ist nicht Michel, aber den hat Alain im Moment auch vollkommen vergessen. Der Mann, der die Leiche behutsam abspült, wendet ihm den Rücken zu und bemerkt ihn nicht. So hat er Gelegenheit, etwas zu sehen, das ihn merkwürdigerweise nicht im Geringsten schockiert. An einigen Stellen hat sich das Fleisch in Fetzen von einem Gesicht gelöst. An der linken Schulter kommen die Knochen raus, und auch die Rippen liegen an einigen Stellen bloß. Alains Faszination überdeckt jedes andere Gefühl. Das Fleisch des Ertrunkenen ist so erweicht, dass es teilweise vom Wasser gelöst und weggewaschen wird, und als der eigentlich doch sanfte Strahl das Gesicht trifft, höhlt er neben der Wange ein Loch aus, in das die Nase hineinsackt. Fünf lange Minuten sieht Alain zu, wie der Tote gereinigt wird. Erst dann tritt er vorsichtig ein paar Schritte zurück und sagt endlich den Satz, den er schon längst hätte sagen sollen: »Guten Tag. Ich soll hier meinen Freund Michel Descombe identifizieren, der gestern verunglückt ist.«

      Der Mann dreht das Wasser ab, geht zu einer Schublade und zieht sie auf. Er hantiert geschickt mit einem sehr langen Reißverschluss, das Geräusch prägt sich Alain für immer ein.

      »Lassen Sie sich Zeit.«

      Alain erkennt seinen Freund sofort. Auch ihn haben sie bereits gewaschen und etwas ›in Ordnung‹ gebracht, seine Haare sind noch ganz nass. Alain meint sofort zu wissen, dass sein Freund unter Schmerzen gestorben ist, denn das Gesicht, das er doch so gut kannte, ist ganz unwürdig deformiert. Alain ist weder aufgeregt, noch empfindet er Ekel. Im Gegenteil. Er lässt sich viel Zeit damit, seinen Freund zu betrachten. Und dabei hat er sich doch vor diesem Gang gefürchtet, hat gemeint, Schuldgefühle würden ihn überwältigen.

      Erst auf dem Weg nach Hause bricht es durch. Er muss seinen weißen Twingo an den Rand fahren und knallt dabei mit seinem rechten Vorderrad hart gegen den Bordstein. Den hat er nicht gesehen, Tränen haben ihm die Sicht genommen. Fast eine Stunde bleibt er da stehen. Heulkrämpfe. In Schüben. Dieser Moment, wenn das einzige Taschentuch sich vollkommen auflöst. Zweimal klopfen wütende Fußgänger, die Schirme in der Hand halten, gegen die beschlagene Scheibe, denn er steht wirklich idiotisch. Und unablässig prasselt Regen aufs Dach seines Wagens, hämmert in sein überreiztes Nervensystem.

      Ohayon tut der Regen gut, denn er hält ihn munter. Gerade hebt er die Hand wie zum Gruß. Im Wetterbericht wird seit Tagen Sturm angekündigt, bei ihnen angekommen sind bis jetzt nur böiger Wind und viel Regen. Im Moment hat sich der Wind gelegt, und so fällt die Flut als grauer Schleier auf kahle Bäume, schlammige Ackerböden, eine Straße. Der LKW-Fahrer kann dem Regen nichts abgewinnen.

      »Muss das unbedingt hier draußen sein?«

      »Also: Sie sind hier gefahren. Mit Ihrem Laster.«

      »Kies, 15 Tonnen.«

      »Verstehe. Und wenn Sie so fahren. Mit Ihrem Kies. Kommt es da vor, dass Kies hinten rauskommt? Mal ein paar Steinchen oder so?«

      »Kann passieren, deshalb halten die meisten auch Abstand.«

      »Und dann?«

      »Der kam wie ein Irrer ran, Licht voll aufgeblendet, und ist dann aber noch hinter mir von der Straße abgekommen und rein in den Baum. Idiotisch, hier noch zu überholen, wo die Straße gleich da oben in die Rue Belleville mündet.«

      »Sie haben ausgesagt, dass Sie nicht wüssten, ob hinter Ihnen noch ein anderes Auto war.«

      »Hab keins gesehen.«

      »Noch mal ganz in Ruhe und von vorne«,

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