Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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klassischen Junkies, sondern Schmerzpatienten, bei denen es aus dem Ruder gelaufen ist. Und es gibt bei ihr auch keine Hilfe, wenn man nicht in die Therapiestunde geht. Ein ganzer Tag pro Woche geht dafür drauf, plus ein Abend für den Papierkram. Sie fühlt sich verantwortlich, manchmal zu verantwortlich. Da muss sie aufpassen, die Grenze im Auge behalten, darauf achten, dass kein Abhängigkeitsverhältnis entsteht. Nur wie soll man ein Abhängigkeitsverhältnis vermeiden, wenn Menschen zu einem kommen, die in Not sind?

      Während sie also, nervöser als sonst, auf ihren Spezialpatienten wartet, wird eine Frage unangenehm, fast bohrend. Sie hatte nach dem Unfall versucht, Nina zu erreichen, und die war fünf Minuten lang nicht ans Telefon gegangen. Wo war sie …?

      Yvonne ist schnell klar, dass sie ihre Freundin auf völlig unsinnige Weise belastet, um ihre eigene Schuld an Michels Tod einzuschränken.

      Es läuft darauf hinaus, dass Yvonne die halbe Stunde vor Michels tödlichem Unfall immer wieder in Gedanken durchspielt. Dabei geht es ihr vor allem darum, in welchem zeitlichen Abstand Autos einen Parkplatz verlassen haben. Anfangs meint sie, alles sei eindeutig und leicht zu erinnern. Dann wird ihr klar, dass es Lücken gibt. Aber auch Neues. Sie hatte in ihrem Erinnerungsfilm zunächst immer nur sich und Nina gesehen. Und natürlich Michels orangefarbenen BMW, wie er da im Regen unter der Traverse stand, an der starke Lampen und so weiter. Aber dann war ihr plötzlich eingefallen, dass auch Alain das Lacombe verlassen hatte. Noch vor Michel, ihr und Nina. Aber Alain? Konnte der etwas gemerkt oder getan haben? – Nein, eigentlich nicht.

      Und so kommt sie nach einer Weile auf ihre Freundin zurück. Nina war gestern Abend sehr schnell mit allem gewesen. Sie hatte Einbruchwerkzeug dabei. Dafür, dass der Einbruch sich letztlich nur aus Michels völlig unerwartetem Tod ergeben hatte, war sie verdammt gut vorbereitet gewesen.

      Das ist ungeheuerlich, das passt gar nicht zu ihr. Sie zieht nicht nur ihre Freundin Nina als Mitschuldige heran, jetzt hat sie auch noch den armen Alain aufs Feld gestellt. Bis jetzt steht er noch am Rand, aber er ist schon da.

      Hör auf!

      Sie kann aber nicht aufhören. Und so macht sie einen gedanklichen Rückwärtssprung und fragt sich, wie gut sie Nina eigentlich kennt. Was für ein Unsinn! Sehr gut natürlich! Sie kannten sich schon als Kinder. Da sie später in verschiedenen Städten studiert haben, verloren sie sich ein paar Jahre lang aus den Augen. Ist in der Zeit etwas mit Nina passiert …? Dann waren sie beide kurz nacheinander nach Fleurville zurückgekehrt. Als hätten sie sich abgesprochen. Sie hatten noch darüber gelacht und sich gefreut. Denn nichts ist so wichtig, so fest und unverbrüchlich wie eine Freundschaft aus Kindertagen.

      Geld war Nina schon immer wichtig, hat sich das in den Jahren verstärkt?

      Yvonne verbietet sich diesen Gedanken. Bei allem, was sie denkt, steht sie selbst im Mittelpunkt. Als ob alle Handlung einzig von ihr abhinge. Dabei könnte sie doch auch überlegen, was für Gedanken Nina oder Alain sich wohl über sie machen, und was für Schlüsse die beiden aus diesen Gedanken ziehen.

      Plötzlich muss Yvonne an ein Abenteuer denken. Sie und Nina waren damals nach Madrid getrampt, obwohl sie wussten, dass junge Frauen da vorsichtig sein sollten. Nina hatte Yvonnes Befürchtungen zerstreut, indem sie ihr ein Klappmesser gezeigt hatte, das sie für den Fall der Fälle in ihrer Hosentasche trug. Und dann hatte sie ein komischer Belgier mitgenommen. Nina hatte sich, wie immer, nach hinten gesetzt …

      Es klingelt.

      Yvonne Clerie verlässt die Küche und geht durch den Flur zur Haustür. Es ist bereits dunkel. Manche ihrer Freunde meinen ja, es sei leichtsinnig, so spät noch Süchtige in ihrem Haus zu empfangen. Genauso gefährlich, wie sich von einem Belgier mitnehmen zu lassen. Kurz bevor sie die Tür öffnet, nimmt sie sich etwas vor. In einer halben Stunde ist sie hier fertig, dann wird sie ins Centre Fleur fahren, ein paar Runden schwimmen und anschließend im Lacombe essen, so viel sie Lust hat. Und zwar heute mal ohne auf irgendwelche Kalorien zu achten.

      Sie öffnet die Tür.

      Es ist ein Abhängiger, der da unter dem Licht steht, aber nicht der, auf den sie gewartet hat. Seine Haare und Schultern sind klatschnass.

      »David.«

      »Bitte …«

      »Was willst du?«

      »Wie immer.«

      »Wer hat dich gebracht?«

      »Ich bin selbst gekommen.«

      »Du bist Auto gefahren?«

      »Bitte, es geht mir schlecht. Ich muss ruhig werden.«

      »Komm rein.«

      Während sie David vorausgeht, muss sie wieder an den Belgier denken. An die Ereignisse im Auto damals. Daran, wie hysterisch Nina geworden war, mit ihrem Klappmesser. Am Ende hatte der Belgier sie angezeigt. Und das nur, weil sie und Nina etwas falsch verstanden hatten.

      »Ich will eine Spritze.«

      Warum hat er das gesagt? Er bekommt nie eine Spritze. Irgendwas an David scheint heute anders zu sein als sonst.

      Während Yvonne nach dem richtigen Medikament sucht, beobachtet sie ihn, und was sie sieht, ist beunruhigend. Normalerweise redet David wie ein Wasserfall. Heute schweigt er, und … sieht er nicht gerade in Richtung ihres kleinen Zimmertresors? Dann in Richtung ihres neuen Laptops. Oder bildet sie sich das nur ein?

      Es ist nicht zu übersehen, dass David sich an einem Punkt der Unentschlossenheit befindet. Er hat die Unterlippe etwas heruntergezogen, manchmal zieht er seine linke, dann wieder die rechte Schulter ruckartig hoch. Plötzlich kommt seine Hand vor und fasst sie am Handgelenk.

      »Du gibst mir doch nichts, was mir schadet?«

      »Ich bin Ärztin, David. Warum sollte ich dir schaden?«

      So merkwürdig hat er sich noch nie verhalten. Er hat Recht, er muss dringend ruhig werden. Oder ist sie wegen ihrer Schuld an Michels Unfall so überdreht, dass sie Gespenster sieht? Ihr Kopf arbeitet auf Hochtouren, David selbst hat sie auf einen Gedanken gebracht. Sie könnte ihm eine so hohe Dosis Beruhigungsmittel spritzen, dass er nicht mehr handlungsfähig ist. Es würde nur ein paar Minuten dauern, bis das Medikament wirkt.

      Und was, wenn er nach der Spritze einfach nur ›danke‹ sagt und verschwindet? Er ist möglicherweise mit seinem Auto gekommen. Hat er das nicht eben an der Tür angedeutet …?

      Er würde sich also in sein Auto setzen, losfahren und bei voller Fahrt einschlafen. Dann hätte sie noch ein Menschenleben auf dem Gewissen. Aber David kann doch gar nicht mehr Auto fahren, mit seinem Rücken und seinen Beinen, normalerweise fährt sie zu ihm. Yvonne bleibt stark, verweigert die Spritze, gibt ihm seine Tabletten und ermahnt ihn, in keinem Fall mit dem Auto zu fahren. Gut gemacht.

      »Komm nicht wieder hierher, ich komme übermorgen zu dir. Hast du verstanden, David?«

      Er sagt nicht mal ›danke‹. Ohne ein weiteres Wort verlässt er ihren Behandlungsraum, humpelt durch den Flur. Die Tür. Er zieht sie sogar noch zu.

      Yvonne bleibt hinter der Tür stehen und lauscht. Sie wartet darauf, dass ein Auto anspringt und losfährt. Sie ist froh, dass sie ihn nicht mit einem Beruhigungsmittel vollgepumpt hat. Und da wird ihr auf einmal klar, dass sie in ihrem jetzigen Zustand eigentlich nicht arbeiten darf. Es geht ihr nicht anders als David. Sie hat das dringende Bedürfnis, ruhig

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