Der Unfall in der Rue Bisson. Matthias Wittekindt

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Der Unfall in der Rue Bisson - Matthias Wittekindt

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Hause zu bringen.

      Marie Grenier von der Spurensicherung ist endlich da, was Resnais erleichtert. Sie ist schick angezogen mit einer Öljacke drüber. Maries Mitarbeiter, die alle die Zwillinge nennen, ziehen sich gerade ihre Kapuzen zu.

      »Fangt schon mal an«, ordnet sie an, »zuerst alles an Spuren auf der Straße.« Dann wendet sie sich an Resnais. »Hast du im Krankenhaus Bescheid gesagt, dass er zu uns gebracht wird, falls er es nicht schafft?«

      »Noch nicht.«

      »Ruf Roland an, dass er eine richterliche Erlaubnis zur Obduktion einholt.«

      Resnais zuckt mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass ihr viel findet. Der Regen und … wahrscheinlich war ja auch nichts, außer dass er zu schnell war. Und dann noch der Zustand der Straße …« Er zeigt auf die Spurrillen, in denen Wasser steht, hart getroffen von Tropfen.

      »Wie ist das passiert?«

      »Er wollte den Laster überholen und hat dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.«

      »Wie? Der setzt so spät noch zum Überholen an? Ich meine, die Straße mündet gleich da vorne in die Rue Belleville. Da stimmt doch was nicht. Nee! Ohayon soll sich hier gleich morgen früh mal umsehen. Hast du nach Zeugen gefragt?«

      »Klar, die kamen aber alle erst, nachdem es passiert war. Und der LKW-Fahrer meint, er hätte kein weiteres Fahrzeug gesehen.«

      Einer der Zwillinge ruft: »Hier liegen rote und orangefarbene Lacksplitter!«

      »Denk dran, Resnais, dass Roland eine richterliche Verfügung besorgt, ich will ihn mir ansehen, falls er es nicht schafft. Jetzt gucke ich mir erst mal den Laster an, nicht, dass der am Ende den BMW von der Straße gedrückt hat. Hat der Arzt dem Fahrer Blut abgenommen?«

      »Hm.«

      Die Zwillinge sammeln ihre Lacksplitter ein. Sie haben starke Lampen aufgestellt, deren Licht flach bis hierher dringt. Dass die Straße in diesem Licht ganz fabelhaft glitzert, darüber verliert niemand ein Wort.

      Noch in der Nacht verfasst Resnais seinen Bericht. Da der Tote keine Papiere bei sich hatte, ist seine Identität noch nicht eindeutig geklärt. Der Wagen ist auf Michel Descombe zugelassen, aber das muss überprüft werden. Also schickt Resnais der Frau vom Sozialdienst eine Mail, in der er sie bittet, sich mit den Eltern oder Verwandten des Opfers in Verbindung zu setzen, damit die ihn identifizieren.

      Es ist halb zwei, als er nach Hause kommt und sich zu seiner Frau ins Bett legt. Constance will ihm unbedingt von der Einweihung des neuen Bahnhofs erzählen, aber Resnais schläft ein, ehe sie auch nur drei Sätze gesagt hat.

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      Als er aufwacht, ist es fast eins. Zuerst versucht er das, was er gerade gedacht hat, zu verdrängen und wieder einzuschlafen. Er redet sich ein, er hätte geträumt, dabei weiß er genau, dass es nicht so ist. Der Gedanke im Moment des Aufwachens war bewusst gewesen und hatte einem Befehl geglichen. Er lauscht angestrengt. Als er sich sicher ist, dass seine Frau tief schläft, steht er so leise wie möglich auf und schleicht in die Küche.

      Er macht Licht. Aber auch das zaubert keine andere Realität herbei. Es gibt etwas Wichtiges zu tun, und doch hat er bis jetzt nicht den Mut aufgebracht, es zu erledigen. Er kennt sich, sein Verstand wird keine Ruhe geben. Also geht er wieder ins Schlafzimmer und holt seine Sachen. Dann schleicht er zurück in die Küche. Das alles kommt ihm richtig vor. Als er schon fast damit fertig ist, sich anzuziehen, merkt er, dass sein rechter Strumpf fehlt. Er zieht also den Schuh über den nackten Fuß. Zuletzt nimmt er im Flur seinen Mantel vom Haken, fühlt, ob die Schlüssel in der Tasche sind, und verlässt das Haus.

      Er durchquert seinen Garten auf präzise verlegten Platten aus Sandstein und folgt dann der Straße, die durch die Südpol genannte Siedlung führt. Sie beschreibt einen Kreis, wobei sie sich leicht hin und her schlängelt, damit die Autos nicht zu schnell fahren. Alle Häuser der Siedlung sind weiß. Sie sind alle zur selben Zeit im selben Stil von der selben Baugesellschaft errichtet worden, und doch wirkt jedes, auf fast schon erschreckende Weise, individuell. Es gibt keine Zäune, und die Vorgärten am Südpol sind nicht mehr als geschorene Flächen mit Büschen und Zwergbäumen, deren Laub selbst im Sommer rot und herbstlich aussieht.

      Im Moment ist allem, was er sieht, jegliche Farbe entzogen.

      Während er geht, denkt er an eine Frau. Die ist zwei Jahre jünger als er und trägt fast immer rote Kleider. Mit ihr muss er dringend reden.

      Was hindert mich …?

      Er gehört doch zu der Sorte Männer, die Frauen gefällt.

      Trotz dieser guten Voraussetzungen hat er das Gespräch immer wieder verschoben. Warum traut er sich nicht? Weil sie jünger ist als er? Weil sie schön ist? Weil so viel auf dem Spiel steht?

      Seit fast einem Jahr hat er sich immer wieder damit getröstet, dass sie früher oder später auf ihn zukommen würde. Er hätte gerne mit seiner Frau über sie gesprochen, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Seine Frau hätte ihn ermutigt: ›Na los, Alain, trau dich!‹

      Nein, er kann nicht mit seiner Frau über sie reden, denn über manches sprechen Männer besser nicht mit ihren Frauen.

      Müsste man dieser nächtlichen Wanderung einen Titel geben, so würde er lauten: Das Gefühl, wenn man etwas unbedingt will.

      Allmählich lässt der Druck nach. Ein idiotischer Druck, denn letztlich macht er ihn sich ja selber.

      Als er nach der dritten Runde auf sein Haus zugeht, haben sich seine Gedanken geklärt. Nichts zwingt ihn, irgendetwas zu übereilen, sein Leben ist doch in Ordnung, so wie es ist. – Nun … Nicht so ganz offenbar, denn das ist nicht der erste Spaziergang dieser Art. Als er die Haustür vorsichtig aufschließt, kommt ihm ein amüsanter und auch erleichternder Gedanke: Wahrscheinlich gibt es in Frankreich hunderte, wenn nicht tausende von Männern, die zeitgleich mit ihm solche nächtlichen Wanderungen unternehmen.

      Er zieht sich gefasst und sicher auf dem Flur vor dem Schlafzimmer aus, doch als er die Tür vorsichtig öffnet, ist er wieder beunruhigt. Er stellt sich vor, dass seine Frau genau in dem Moment, wo er in der Tür steht, das Licht anmachen und fragen würde: »Wo warst du? Warum hast du deine Sachen unter dem Arm?«

      »Wo kommst du her?«

      »Geh schlafen.«

      »Wie siehst du denn aus! Und du riechst nach Benzin. Was ist passiert?«

      »Ich hatte ein Problem beim Tanken. Komm, geh wieder schlafen.«

      Nina muss nun doch lächeln. Ihre Mutter sieht aus wie ein Gespenst, in ihrem Nachthemd. Nachdem sie sie ins Schlafzimmer gebracht hat, geht Nina nach oben in ihr Studio, setzt sich im Dunkeln auf einen Stuhl.

      Das Klavier … Damit setzen die Gedanken ein, und die sind weit entfernt von den Straftaten, die sie heute Nacht begangen hat. Ist das eine Fähigkeit? Eine Ungeheuerlichkeit?

      Sich kaum eine Stunde nach einem Einbruch, wahrscheinlich einer Verdeckungstat, als Kind zu sehen, als elfjähriges Mädchen. Dabei ist sie nun wirklich kein Mädchen mehr. Nina ist 28 Jahre alt und mit ihren 1,82 groß für eine Frau. Man hat sie nach der Lieblingsschwester ihrer Mutter benannt, einer talentierten Sängerin, die es fast bis in die Oper von Paris geschafft

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