Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Jochen Schimmang

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Altes Zollhaus, Staatsgrenze West - Jochen Schimmang

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ich meine leergeräumte Wohnung in der Bonner Kurfürstenstraße endgültig verließ und mich auf den Weg machte, und die bösen Sätze, mit denen der heilige Benedikt auf mich, auf meinen Eigenwillen und meine Gaumengelüste zeigte, las ich ausgerechnet in Paris am frühen Abend, bevor ich mit Pierre ein letztes Mal essen ging.

      Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Norden, und gut vier Stunden danach war ich angekommen an meinem heimlichen Ort, meiner spröden, verhärmten Geliebten unter den Städten, von der niemand nichts weiß.

       3Bleu de Mer

      An diesem Ort blieb ich den ganzen Winter.

      Seitdem ich 1982 nach Bonn gekommen war, ins Herz der Macht, wie mein Chef sich entgegen seiner sonstigen Redeweise damals etwas blumig ausdrückte, hatten mich meine kleinen Fluchten am Wochenende oder in ganz kurzen Urlaubszeiten immer wieder dorthin geführt. Ostende kannte ich lange nur von der Fähre nach und von England, angefangen mit meinem ersten Besuch in London 1966. Dann, in den späten Siebzigern, damals arbeitete ich noch in Speyer, verpasste ich einmal eine Fähre und musste übernachten. Es war schon Oktober, aber noch hatte alles geöffnet, und als ich nach dem Essen an der Albert-Promenade am Meer entlangging, das sich zwar im Dunkel versteckte, aber gut zu hören war, und dann durch die Straßen des Zentrums – auf der anderen Straßenseite einmal angetrunkene, grölende Engländer, dann aber wieder überraschend stille Ecken –, dachte ich, die Stadt sei vielleicht einen längeren Aufenthalt wert, in der Vor- oder Nachsaison womöglich, in einem kleinen Hotel, das nicht unbedingt Meerblick haben musste, und abends Muscheln in einem der Restaurants an der Promenade: Moules frites, Moules à la Crème, Moules marinières und so weiter.

      So ist es auch gekommen, das erste Mal 1983 und danach immer, wenn es sich ergab. Verlängerte Wochenenden, Kurzurlaube, Karnevalsfluchten. Keinem meiner Freunde habe ich je davon erzählt, und ich wäre lange nicht auf den Gedanken gekommen, Sonja nach Ostende mitzunehmen, bis auf dieses eine Mal, bevor sie endgültig verschwand. Aber ich war dann im letzten Moment nach Knokke abgebogen, wo wir das Wochenende verbrachten, und hatte mein Geheimnis bewahrt. Selbst in dieser Phase schlimmster Verfallenheit, als ich kurz davor stand, sie heiraten zu wollen, mochte ich Ostende nicht mit ihr teilen.

      Ich konnte sie mir auch nicht im Hotel Louisa vorstellen, das ich bei meiner damaligen, durch die verpasste Fähre erzwungenen Übernachtung entdeckt hatte und dem ich treu blieb.

      Kam ich nach Ostende, kam ich auf eine Art und Weise nach Hause wie an keinen anderen Ort der Welt. Dabei hatte ich von früh an ein großes Talent, schnell zu Hause zu sein; vielleicht ist das mein größtes Talent überhaupt. Auch der Nomade, gerade er, braucht die Orte, an denen er jeweils zur genau richtigen Zeit zu Hause ist.

      Aus dem Journal meiner Tätigkeiten in Ostende, seit damals:

      Am frühen und am späten Abend über den Strand laufen, vor und nach dem Essen. Am frühen Abend unter vielen Menschen, die alle hungrig werden wollen, wobei bekanntlich nichts so sehr hilft wie Seeluft. Am späten Abend oft allein oder nur mit wenigen Anderen, vermutlich Einheimische.

      Auf einer Bank am Kai in der Spätsommerwärme in einer deutschen Zeitung über den Tod von Georges Simenon lesen.

      Mit dem Hotelier sprechen, mit Kellnerinnen, Verkäuferinnen. Kurze, zielgerichtete, in der Regel freundliche Dialoge, die zu keiner weiteren Beziehung führen.

      Ein blau-weiß gestreiftes Sweatshirt mit der großen Aufschrift Bleu de mer und ein marineblaues T-Shirt mit dem gleichen Text kaufen, im atlantischen Küstensommer, als seien wir womöglich an der Côte d’azur.

      Im Hotelzimmer im Fernsehen die Sportschau sehen und mich, weil in Deutschland niemand weiß, wo ich gerade bin, fühlen wie Rumpelstilzchen.

      An einem Julitag aus sicherer Entfernung und mit gezügeltem Begehren ein Geschöpf am Strand liegen sehen, fünfzehn bis siebzehn Jahre, allein auf einer Decke, ab und an zuckend im Halbschlaf.

      Den Möwen zusehen und zuhören, unter deren strengem Blick und unter deren mahnenden Rufen ich mich bis heute fühle wie damals auf der Couch meines Analytikers.

      Früh und tief schlafen, wie nur an der See. Alle Jahreszeiten hier gewesen und auch einen Sturm erlebt, an einem Herbstmorgen im Wintergarten eines Restaurants, dort, unter einzelnen, ruhigen Gästen, saß ich hinter den großen, nassen Scheiben mit meinen Croissants und schaute ins näherkommende Meer.

      Nicht einen einzigen Augenblick jedoch habe ich jemals daran gedacht, mich in Ostende niederzulassen. Ich wusste, dass ich nur als Fremder hier zu Hause sein würde. Das Versteck Ostende schützte mich nur so lange, wie ich mich nicht ansiedelte. Aber in meinem ersten Nomadenjahr, in jenem November, als ich hier ankam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich in einem köstlichen Halbzuhause niederzulassen, in diesem Appartement im sechsten Stock eines hässlichen Hochhauses an der Promenade, in dieser Stadt, die niemand schön nennen wird, der bei Sinnen ist.

      Was ist ein Halbzuhause? Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, und den man, wenn die Zeit gekommen ist, ohne Schmerz verlassen kann.

       4Blitze über der Biskaya

      Schon früh, noch als Kind, hatte ich das Talent zum Alleinsein. Ich lebte zwar mit meinen Eltern unter einem Dach, aber meist in einer gewissen Entfernung von ihnen, oder sie von mir – das habe ich nie herausgefunden. Mein Bruder, sechs Jahre älter als ich, lebte in einer anderen Entfernung. Als ich sechs war, kam er wegen einer Erkrankung für zwei Jahre in ein Sanatorium sehr weit weg, im Schwarzwald. Meine Eltern besuchten ihn dort regelmäßig, einmal kam ich mit. Ich erinnere mich an zwei wichtige Erlebnisse während dieses Besuches. Hier gab es den ersten Grenzübertritt meines Lebens, denn wir fuhren einmal für ein paar Stunden bei Waldshut in die Schweiz hinein. Ich war erleichtert, als wir es schafften, ohne Probleme wieder zurückzukommen. Ich hatte mir das schwerer vorgestellt. Noch wichtiger war eine Begegnung in einer Kirche in irgendeinem der Örtchen der Gegend, vielleicht St. Blasien. An diesen Namen erinnere ich mich. Es kann aber auch gut in St. Georgen gewesen sein. Über einem Altar sah ich als lebensgroße Skulptur Gott thronen. Gott trug einen blauen Mantel mit einem goldenen Revers und goldenen Bündchen, und natürlich hatte er einen Bart. Das war das erste Bild von Gott, das ich sah, und meine Gottesvorstellung hat dieses Bild bis heute nicht überschritten.

      Mein Talent zum Alleinsein entwickelte ich während der Schulzeit weiter und konnte darauf zurückgreifen, wann immer es nötig war. Dabei war ich bei der Mehrzahl meiner Mitschüler beliebt, hatte von Anfang an Zugang zu gleich mehreren Cliquen, die ich gleichsam besuchte und aus denen ich mich zurückzog, wenn ich nicht mehr konnte. Wenn ich keine Lust mehr hatte.

      Das geschah oft. Wenn Gruppen zu groß wurden und zu lange zusammensaßen, langweilte ich mich sehr schnell, und so ist es bis heute geblieben. Zwei oder drei Menschen – mich selbst mit eingerechnet –, sind die ideale Größe fürs Zusammensein. Der Vierte ist schon einer zu viel, und je länger das Zusammensein dauert, desto tiefer sinkt das Niveau, das Gespräch versandet in Gemeinplätzen, blöden Sprüchen, Insiderjokes. Ums Niveau geht es mir aber nicht, ich muss mich nicht ständig auf dem Hochplateau bewegen. Es geht mir um die Langeweile. Viele Leute auf einem Haufen – Familienfeiern, Geburtstage, Jubiläen bezeugen das zur Genüge – sind über kurz oder lang fade und deshalb anstrengend. Zwei oder drei, wenn sie passen, können lange miteinander sein, ohne dass es öde wird. Sogar miteinander schweigen können sie, ohne sich zu langweilen. Vier können das nicht mehr.

      Ohne dieses Talent hätte ich meine Nomadenjahre nicht durchstehen können. Ich war unterwegs, an niemanden gebunden,

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