Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Jochen Schimmang

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Altes Zollhaus, Staatsgrenze West - Jochen Schimmang

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Den haben sie gleich aus der Versenkung rausgeholt, als die Schmuggler immer raffinierter wurden, und er ist dann auch schnell die Leiter hochgeklettert, saß Anfang der Sechziger schon in Bonn. Du hast ihn vielleicht kennengelernt? Er war später Leitender Regierungsdirektor und …«

      »Anfang der Sechziger war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, Martin. Da kannte ich noch nicht mal die Beatles, geschweige denn einen Zollfahnder. Als ich nach Bonn kam, war dein Mann entweder schon im Ruhestand oder tot, nehme ich an.«

      Martin Taubert hat in den Erzählungen aus seinem Leben und in seiner Sicht auf die Welt weitgehend jenes schöne Stadium der Gleichzeitigkeit erreicht, das auch ich anstrebe. Mit neunzig sind die Grenzen zwischen den Stationen der eigenen Lebensgeschichte offenbar weitgehend aufgehoben. Zumindest ist keine davon wichtiger oder weniger wichtig als andere, von der unmittelbaren Gegenwart vielleicht abgesehen, die gegenüber der angehäuften Geschichte ziemlich belanglos ist. Aber die früheren Zeiten können jederzeit präsent werden, und dann leuchten sie, als sei es gerade gestern geschehen. Mit Senilität oder gar Demenz hat das nichts zu tun. Martin ist im Gegenteil ein hellwacher Geist und weiß mehr, so denke ich manchmal, als alle anderen 1141 Einwohner von Granderath zusammen, mich selbst eingeschlossen.

      Dieser Leitende Regierungsdirektor jedenfalls, von dem er mir erzählt hatte, kam kurz vor seiner Pensionierung zu Fall, als sich herausstellte, dass er am Ende seiner Zeit als Zollfahnder, bevor er nach Bonn ging, die Hand aufgehalten hatte, ausnahmslos bei den ganz Großen, damit es sich auch lohnte.

      »Wer an der Grenze steht«, sagte Martin, »kommt schnell mal einen Schritt vom Wege ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums.«

       6Ein Schwarm Krähen

      Granderath hat sich bisher nicht eingemeinden lassen. Als ich eingezogen war, bekam ich sehr bald ein Begrüßungsschreiben des Bürgermeisters, der hoffte, ich würde mich in meiner neuen Heimat – Heimat! – wohlfühlen, und in dem aufgeführt war, was man in Granderath und Umgebung alles anstellen kann. Das war natürlich ein irgendwann einmal erstelltes Standardschreiben, vorgesehen für alle Neubürger. Die Gemeindeverwaltung hat jedoch nur selten Gelegenheit, es zu verschicken, weil Granderath schrumpft, statt Neubürger anzuziehen. Vor drei Jahren ist ein Künstlerpaar im Rentenalter in ein altes Haus am Südrand des Ortes eingezogen, das war es wohl mit den Neubürgern. Genau genommen, weiß Martin, handelt es sich um einen Künstler mit seiner Frau, einer pensionierten Gymnasiallehrerin, die mit ihren Ruhebezügen für zuverlässiges Geld sorgt. Im Sommer sieht man beide manchmal im Garten Tee trinken. Sie grüßen mich sogar. Einmal hatte ich den Eindruck, sie wollten mich aufs Grundstück winken und mir eine Tasse Tee anbieten, schienen dann aber im letzten Moment zurückzuscheuen. Sie wissen sicher, dass auch ich ein Zugezogener bin. So bleiben wir füreinander ein vages Gerücht und winken uns aus sicherer Entfernung zu. Da sie mich nicht hereingebeten haben, muss auch ich sie nicht einladen, und nach wie vor bleibt Martin mein einziger Besucher.

      Bis gestern. Da stand ein junger Mann aus Straelen vor der Tür, Ende zwanzig vielleicht, und sagte:

      »Ich bin extra zu Ihnen rausgefahren.«

      Von Straelen nach Granderath sind es knapp zehn Kilometer. Der junge Mann war mit dem Fahrrad gekommen. Dann sprach er davon, er habe ein Anliegen, jawohl, ein Anliegen, aber keine Angst, er wolle mir nichts verkaufen und nicht betteln. Ich zögerte einen kurzen Moment, vielleicht nur, um einen kleinen Abstand zu schaffen, danach ließ ich ihn eintreten. Ich hatte es schon lange nicht mehr erlebt, dass jemand etwas von mir wollte, ein völlig Fremder noch dazu.

      Wir tranken Tee. Sein Anliegen war ein doppeltes. Erstens hatte er etwas über mich herausgefunden, wer ich nämlich einmal gewesen war, also im Herzen der Macht, um den Minister noch einmal zu zitieren. Der junge Mann hatte Politikwissenschaft studiert und arbeitete jetzt in einem Straelener Unternehmen für Webdesign. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, war mir nicht ersichtlich, aber ich sagte ihm gleich, dass ich keinen Internetauftritt brauchte und dass ich hinreichend, aber nicht exzessiv vernetzt sei, was enorm zu meinem Wohlbefinden beitrage.

      »Auftreten«, sagte ich, »will ich auf keinen Fall, weder persönlich noch im Netz. Ich bin vor über zwanzig Jahren abgetreten; dabei bleibt’s.«

      Der junge Mann ließ ein kleines, nervöses Lachen hören, der Qualität meines kleinen Witzchens durchaus angemessen, und sagte, er sei keineswegs als Acquisiteur hier. Auch nicht für Die Grünen, deren Mitglied er sei und von denen er hoffe, ich würde ihnen bei den nächsten Wahlen meine Stimme geben, weil nur sie ein zukunftsgerechtes Konzept hätten. Sie hätten in dieser Gegend übrigens einen schweren Stand.

      Ich ergriff die Gelegenheit zu einem weiteren kleinen Witzchen und sagte:

      »Wundert mich eigentlich. Grüner als hier kann es doch gar nicht mehr werden, mit all dem Gemüse und den Blumen.«

      Er lachte auch darüber sein nervöses, kleines Lachen und sagte, das Agrobusiness sei natürlich genau das Problem, aber darüber wolle er jetzt nicht reden. Er wolle hier keinen privaten Wahlkampf machen. Vielmehr sei er wegen Carl Schmitt hier.

      Ich war selbst verwundert, wie rasch in mir der Unmut, ja der Zorn wuchs und wie völlig machtlos ich dagegen war.

      Er schreibe nämlich, fuhr der junge Mann fort, eine Doktorarbeit zu Schmitts Theorie des Zugangs zum Machthaber, und er wisse natürlich, dass ich ein ausgewiesener Schmitt-Experte sei oder wenigstens gewesen sei, und was den Zugang zum Machthaber angehe, so hätte ich da ja auch meine persönlichen Erfahrungen gemacht, und –

      Weiter ist er nicht gekommen. Inzwischen würde ich sagen, ich war zornig, aber gerade noch beherrscht, einschüchternd, aber noch nicht gewaltbereit. Immerhin stand ich während meiner Suada auf und begann, in meinem schönen großen Salon mit den bis an die Decke reichenden Bücherregalen hin und her zu gehen, und ich sah, wie der junge Mann die Schultern hochzog und beinahe einen Buckel machte und sich zusammenkrümmte, als erwarte er jeden Moment den ersten Schlag.

      Er solle mir bloß nicht mit diesem Meisterdenker kommen, fing ich an, leise noch, aber vermutlich schon mit einem leichten Beben in der Stimme. Mit diesem kleinen Ehrgeizling und Schönschreiber, der geglaubt habe, er sei dazu berufen, den Machthaber seiner Zeit zu beraten, und dann aus allen Wolken fiel, als man ihn abservierte, bevor er überhaupt richtig zum Zuge gekommen war. Dabei sei er nicht einmal in der Lage gewesen, die serbische Hochstaplerin zu durchschauen, in die er verknallt gewesen sei.

      Wenn ich mich recht erinnere, war das die Stelle, an der ich aufstand und durchs Zimmer zu tigern begann, weil ich mich an meine eigene Blindheit gegenüber Sonja erinnerte.

      Zu Schmitt sei ich gekommen beinahe wie die Jungfrau zum Kind, sagte ich weiter, damals sei das noch ein Thema gewesen, das ein bisschen entlegen gewesen sei, und ich habe davon ausgehen können, dass mein Prof meine Arbeit wirklich lesen und nicht nur überfliegen werde, und plötzlich hätte ich zum ersten und vielleicht einzigen Mal in meinem Leben so etwas wie Ehrgeiz entwickelt, eine Haltung, die mir ansonsten völlig fremd sei.

      Bei diesen letzten Worten sah mich der junge Mann erstaunt an, das glaubte er mir nicht, aber ich fand es nicht der Mühe wert, weiter darauf einzugehen.

      Die anderen Meisterdenker seien damals besetzt gewesen, erzählte ich weiter und wurde langsam lauter, und an Schmitt sei natürlich dieser pseudolakonische, pseudolateinische, pseudoklare Stil faszinierend gewesen, dazu diese eingängige Freund-Feind-Definition und die Verlockung, dass man gewissermaßen selbst entscheiden könne, wer der Feind sei, ohne wirklich Gründe dafür angeben zu müssen.

      An dieser Stelle wollte der junge Mann etwas einwenden –

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