Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Jochen Schimmang

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Altes Zollhaus, Staatsgrenze West - Jochen Schimmang

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fertig, ich war in Fahrt, und während ich weiterschimpfte, hörte ich mir selbst erstaunt zu.

      Inzwischen, sagte ich, inzwischen schreibe ja jeder halbgebildete Bacheloranwärter seinen kleinen Gedanken zu Schmitt nieder, und jede zweite fein aufgemachte Intellektuellenzeitschrift grabe eine weitere Trouvaille zu ihm aus, natürlich in einem rein epigonalen Stil, denn die Ministranten dieses Denkpriesters wollten ihm so nahe wie möglich kommen, was ihnen aber nicht gelinge, weil er ihnen dafür denn doch zu himmelweit überlegen gewesen sei und sie selbst über das Stadium des Wiederkäuens nicht hinauskämen.

      Und natürlich, fuhr ich noch lauter fort, ohne weiter auf die zunehmend verängstigte Reaktion meines Besuchers Rücksicht zu nehmen, natürlich sei er nicht der einzige Denkpriester, es gebe noch genug andere, die alle ihren Ministrantenschweif hinter sich herzögen, der jederzeit für genug Weihrauchzufuhr sorge. Ich hätte, sagte ich, dieses ganze Metagequatsche satt, diesen unendlichen Sommer der Theorie, dieses Aufgeilen an noch einer und noch einer Drehung des Denkens, diese Fußnotenorgasmen. Und noch mehr hätte ich es satt, sagte ich, wenn man daraus auch noch praktische Schlussfolgerungen ziehen wolle, womöglich politische, wenn diese angegammelte Frage, ob der Mensch – der Mensch! – im Prinzip gut oder böse sei, wieder aufgewärmt und hin- und hergedreht werde, und wenn dann die guten und die bösen Menschen daraus noch Konzepte für die Welt entwickeln würden, Programme für die ein für alle Male richtige Zukunft, Programme, die naturgemäß das Allerentsetzlichste überhaupt seien. Seine Partei sei ja Meister darin, obwohl ironischerweise gerade sie bis in alle Ewigkeit dagegen gefeit sei, einen Denkpriester, einen Meisterdenker oder überhaupt auch nur einen Denker in ihre Reihen aufzunehmen oder gar selbst hervorzubringen, dazu sei ihr antiintellektuelles Immunsystem einfach zu intakt.

      Nach diesem letzten Satz, den ich gerade noch hatte zu Ende bringen können, verschluckte ich mich so gründlich, dass ich von einem schier endlosen Hustenanfall heimgesucht wurde und nach Luft schnappte, und diese Gelegenheit ergriff der junge Mann, um sehr behende aus seinem Sessel hochzufedern und mein Zollhaus blitzschnell und ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen.

      Als er gegangen, als er auf seinem Fahrrad geflohen war, fragte ich mich, ob ich nicht ein wenig voreilig gewesen war. Schließlich hatte ich den jungen Mann überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, und vielleicht hatte er ja vor, in seiner Arbeit den alten Gnom von Plettenberg nach allen Regeln der akademischen Kunst in die Pfanne zu hauen, wie konnte ich das wissen. Ich nahm mir vor, mich bei ihm zu entschuldigen, wenn ich ihn einmal zufällig in Straelen auf der Straße treffen sollte, seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt.

      Dann verließ auch ich das Haus, wandte mich nach links und ging eine Stunde in Holland spazieren. Ich winkte dem Besitzer des ersten weißen Hauses freundschaftlich zu, und er winkte zurück. Hinter Tingeloo begann freies Feld, auf dem ein Schwarm Krähen emsig bei der Arbeit war. Woher, dachte ich, woher kam denn eben diese große Wut.

       7Brücke, Garten

      Martin ist seit langem Witwer, aber er ist auch Vater, Großvater und seit einem Jahr sogar Urgroßvater. Seine beiden Söhne und seine Tochter sind schon vor Jahrzehnten vor der Grenze und dem Niederrhein geflohen, nach Frankfurt (am Main), nach Stuttgart und in die Schweiz. Manchmal ist jemand aus der Familie zu Besuch, dann kommt Martin vielleicht eine ganze Woche nicht zu mir, und ich sehe im Ort, wie er zum Beispiel in das Auto eines seiner Söhne steigt und man einen Ausflug macht, diesseits oder jenseits der Grenze. Er ist so taktvoll gewesen, mich nie zu fragen, warum ich keine Familie habe, und er hat mich auch nur einmal nach meinen Eltern gefragt.

      »Mein Opa war bei der Bahn«, erzählte ich ihm eines Tages, »erst bei der Reichsbahn und dann bei der Bundesbahn. Kurz nach dem Krieg – dem zweiten – ist er mitsamt einer Brücke, über die gerade ein Zug gefahren war, in einen Fluss gestürzt. Für alle war es ein Wunder, dass er das überlebt hat, aber richtig gesund ist er nicht mehr geworden. Er durfte vorzeitig in den Ruhestand und kümmerte sich um unseren Schrebergarten, und dorthin nahm er mich auf dem Fahrrad oft mit. In diesem Garten ist er auch gestorben, an einem Sonntagmorgen im Januar, allein, Herzstillstand, da war er erst sechsundsechzig, und ich war noch nicht sieben.«

      Das war meine Lieblingsgeschichte aus meiner Familie. Ich war froh, so eine Geschichte erzählen zu können. Sehr viele mehr hatte ich nicht.

      »Dein Lieblingsopa«, sagte Martin, »das hört man.«

      »Mein einziger«, sagte ich, »den anderen habe ich nie gekannt.«

      »Und wo ist das mit der Brücke passiert?«

      »In der Nähe einer anderen Grenze, die es heute nicht mehr gibt. Aber vor kurzem habe ich von dieser Grenze geträumt, Martin, sogar in Farbe. Selbst das Lysol roch freundlicher als damals.«

       8Vom Reichtum

      Zurück aus Berg und Tal, zurück im flachen Land.

      Ich war ein paar Tage bei meinem Finanzberater. Das klingt sehr bedeutend, und es ist auch nicht falsch. Trotzdem suche ich, seitdem wir uns kennen, immer wieder einmal nach einem anderen Wort, war aber bisher mit keiner Alternative zufrieden.

      Ich war also bei Manuel Hertz. Manuel hat sich vor vier Jahren eine kleine nachgemachte Bauhausvilla in die Hügel des Hochtaunus bauen lassen, an den Rand von Kronberg. Für den Preis, den er allein für das Grundstück bezahlt hat, hätte ich vermutlich mehr alte Zollhäuser kaufen können, als es an den deutschen Grenzen überhaupt gibt. Manuel hat sich dort zur Ruhe gesetzt, wie er immer wieder betont. Er muss das auch betonen, weil er die Aura einer ständigen, gerade noch gezügelten Nervosität, die ihn umgibt, noch immer nicht ganz abgelegt hat. Zur Ruhe gesetzt bedeutet zunächst nur, dass er nicht mehr als Investmentbanker für die Bank arbeitet, für die er zwölf Jahre unterwegs war, und sich jetzt stolz Privatier nennen darf, wie ich auch. Manuel ist heute fünfundvierzig, und er sagt:

      »Mit vierzig musst du es geschafft haben und abhauen können, sonst bist du fünf Jahre später tot. Oder in der Edelpsychiatrie. Oder musst jeden Tag ins Fitnessstudio. Im Übrigen habe ich keine Lust, mich lebenslang beschimpfen zu lassen, weil ich Banker bin.«

      Immerhin hat er Fortschritte gemacht. Selbstverständlich war ich auch diesmal Gast in seinem Haus, nicht zum ersten Mal, und ich sah, dass er länger schlief als früher und nun nicht mehr sofort nach dem Aufstehen über alles informiert sein musste. Auch machte er nicht mehr dauernd den Eindruck, als müsse er in fünf Minuten eine wichtige Entscheidung treffen. Aber noch immer spürte man die Unruhe in seinem Inneren, und eines Nachts hörte ich ihn im Halbschlaf laut aufschreien und dann wimmern.

      »Ich habe wieder mal geträumt, dass ich ruiniert bin«, erzählte er am nächsten Morgen beim Frühstück, als ich ihn danach fragte.

      »Absurd.«

      »Nein, gar nicht absurd. Das ist bei sehr reichen Leuten ein Standardtraum.«

      »Ich bin doch auch reich«, sagte ich, »ich träume so etwas nicht.«

      »Du bist nicht reich, du hast ein ganz gutes Auskommen. Was Reichtum ist, davon hast du gar keine Ahnung. Und das ist dein Glück.«

      Manuel habe ich gegen Ende meiner Nomadenjahre kennengelernt, kurz, bevor ich das Haus in Granderath entdeckte. Das war in Ostende an einem sehr trübgrauen Dezemberabend bei zehn Grad plus. Damals logierte ich im achten Stock eines jener monströsen Hochhäuser an der Promenade. Stürmische Tage, für diesen Abend und die Nacht war sogar eine Orkanwarnung ausgesprochen worden. Die Ostender Straßen waren reichlich leer. Die

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