Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Jochen Schimmang
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»Déjà?«
Hätte da etwas passieren können? Manchmal, in anderen Orten, ist etwas passiert, darüber hier weiter kein Wort. Die Zeiten von Gregor Korff, Frauenliebling an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, waren jedoch lange vorbei.
Wenn das Alleinsein zu riesig, wenn es zur lebensgefährlichen Göttin Einsamkeit wurde, handelte ich schnell; auch das gehörte zu meinen erworbenen Techniken. Ich hatte meine Fluchtpunkte. Es war einer dieser Fluchtpunkte, von denen ich zurückkehrte, als ich das Zollhaus in Granderath entdeckte. Ich hatte einen Ort gefunden, und wenn ich später auch Martin Tauberts Prophezeiung hörte, dieser Ort werde eines Tages verschwunden sein, bin ich doch davon überzeugt, dass er mich noch überleben wird.
5Früher war es so, dann war es so
Dass ich die bewussten Sätze über den alten Spinner hörte, als ich im Ort einkaufte, klingt ein wenig so, als wohnte ich weit draußen, allein wie ein Anachoret, wie der heilige Benedikt einen solchen Mönch nennt, vorbereitet für den Einzelkampf in der Wüste. Nichts ist falscher. Die letzten Häuser von Granderath vor der Grenze beginnen gerade dreißig Meter ortseinwärts von meiner Station entfernt, und wenn ich aus der Tür trete und mich nach links wende und nach einigen Schritten in Holland bin, findet sich auch dort naturgemäß eine aufgegebene Grenzstation, die allerdings nicht bewohnt ist und langsam verfällt. Schade, wie gern hätte ich mich einmal wöchentlich mit meinem Kollegen von der anderen Seite getroffen!
Danach schließen sich bald die Häuser des Dörfchens Tingeloo an, viel kleiner als Granderath, eigentlich nur drei ehemalige Höfe, bewohnt von offenbar wohlhabenden Leuten, prächtig herausgeputzt und strahlend weiß, dazu am Dorfrand ein Bordell. Dorthin fahren die deutschen Bewohner der Grenzregion, so, wie die Leute aus Tingeloo nach Straelen oder auch nur nach Granderath fahren, um einzukaufen, wenn sie nicht im Lande bleiben und es nach Venlo geht.
»Früher«, sagt Martin Taubert, »war das hier vermintes Gelände. Nicht wörtlich natürlich, aber weil es der kleinste Übergang war, war der Schmuggel besonders heftig. Wir hatten nämlich immer zu wenig Leute.«
Martin schaut inzwischen ein- oder zweimal die Woche bei mir rein. Was seine Gesellschaft so angenehm macht, ist die Tatsache, dass er keine Meinungen mehr hat, und wenn er welche hat, dann äußert er sie nicht. Er schimpft nicht und hat keine Liste von Vorschlägen, was alles anders gemacht werden müsste. Von ihm habe ich irgendwann stillschweigend gelernt, dass man keineswegs auf der Höhe der Zeit sein muss und dass das nicht einmal einen besseren Überblick verschafft. Martin erzählt, und seine Erzählung lässt sich etwa so beschreiben: Früher war es so, danach war es so, und schließlich gab es die Grenzstation nicht mehr.
»Vor dem Ruhestand war ich dann noch drei Jahre in Goch. Das war mein Exil.«
Martin ist nicht in Granderath aufgewachsen, sondern in Moers, immerhin noch ein ganzes Stückchen von der Grenze entfernt. Niederrhein, aber noch nicht der richtige: Ruhrgebiet eben. Die Abstufungen sind hier manchmal sehr fein.
»Aber ich war zweiundzwanzig, als ich beim Zoll anfing, und vorher bin ich nur Schüler und in den beiden letzten Kriegsjahren Soldat gewesen.«
»Erzähl mir nichts vom Krieg«, beschwor ich ihn.
»Tue ich nicht. Diese Grenze war mein Leben, Gregor. Deshalb bin ich auch hier geblieben, als ich pensioniert wurde.«
Es hat immerhin ein ganzes Jahr gedauert, bis Martin anfing, mich zu duzen. Vermutlich hat ihn vorher der völlig unangemessene Respekt vor jemandem, der eine Karriere in Bonn und danach auch noch an der Uni hinter sich hatte, daran gehindert. Erst nach und nach hat er erfahren, was für ein schräger Vogel ich eigentlich gewesen war, und erst dann ging er zum du über.
Von seinen Eltern und von den Schuljahren erzählt er nichts. Sein Leben hat erst an der Grenze angefangen, in den frühen Fünfzigern; zum Beispiel, als an einem Oktobermorgen 1952 gleich drei gepanzerte Wagen zur gleichen Zeit, zwei Daimler und ein Borgward Hansa 2400, in hohem Tempo den Schlagbaum rammten, und weg waren sie.
»Das passierte in den frühen Jahren so oder ähnlich einige Male. Wenn wir sie zu verfolgen versuchten, haben sie kleine Nagelbälle rausgeworfen. Dabei war der Übergang erst zwei Jahre alt. Man hatte ihn extra neu eingerichtet, weil die Schmuggler an dieser Stelle verstärkt die grüne Grenze genutzt hatten. Ich war von Anfang an dabei, ganz frisch als Zollassistent. Das Verrückteste an der Sache war, dass ein wesentlicher Teil der Ware aus Belgien kam.«
»Belgien?«
»Ja, einen Teil des Kaffeeschmuggels, der am Dreiländereck konzentriert war, unten bei Aachen, den haben sie durch Holland nach Norden umgeleitet, bevor es nach Deutschland weiterging. Da unten wurde es immer schwieriger, die Grenzsicherung hatte in der Gegend viel mehr Personal als wir hier in unserer kleinen Klitsche, und die klügste und am besten organisierte Gruppe machte jetzt diesen Umweg. Sie hatten einen Kontaktmann in Granderath, nicht älter als ich. Später wurde aus dem Kontaktmann der eigentliche Organisator, der Kopf der Gruppe. Der Schmugglerkönig von Granderath. Ist vor zwei Jahren gestorben, der Herr Hermanns. Seine beiden Söhne konnten studieren, und von den Enkeln ist der Heinz-Leo Rechtsanwalt in Düsseldorf geworden, der Hans arbeitet beim Finanzamt Kleve und der Herbert in Straelen in der Firmenleitung eines großen Blumenversands.«
Die Granderather, soweit sie arbeiten und nicht zu jung oder zu alt dafür sind oder sogenannte Transferleistungen beziehen, sind mehrheitlich in Straelen beim Gemüse, beim Obst oder bei den Blumen beschäftigt. Meistens ziehen sie auch dorthin, sobald ihnen ihr Arbeitsplatz einigermaßen sicher erscheint.
Martin erzählt gern von den frühen Zeiten des Grenzdiensts und des Schmuggels, die er selbst wahlweise die romantische oder die heroische Periode nennt. Später, als der Kaffee-, Tabak- und Butterschmuggel nicht mehr diese Bedeutung hatte oder überhaupt keine Rolle mehr spielte, wurde die Arbeit zwar vorübergehend weniger gefährlich, aber auch nüchterner. Es ging jetzt eher darum, Frachtpapiere und Dokumente lesen zu können und den versteckten Trick ausfindig zu machen.
»Da saß ab Mitte der Fünfziger einer in der Zollfahndung in Düsseldorf, von dem ständig neue Hinweise kamen, wie der Feind – er hat die Schmuggler immer nur den Feind genannt – seine Techniken schon wieder verfeinert hatte. Der war schon älter, Ende vierzig, und hatte bei den Nazis Karriere