Mörderklima. Stefan Schweizer
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Als sie sich auf der Schwarenbergstraße befand, stellte sie zufrieden fest, dass viele Menschen auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unterwegs waren. Eine Vergewaltigung auf offener Straße schien damit ausgeschlossen. Sie atmete tief durch. Dann hörte sie voller Schrecken, wie sich ein Fenster in dem Mehrfamilienhaus aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts öffnete.
„Komm zurück, du Schlampe, wir sind noch nicht fertig“, hörte sie die sich beinahe überschlagende, lächerlich hohe Stimme. „Du weißt ja gar nicht, was dir alles entgeht, du Flittchen!“
Ohne sich umzublicken, beschleunigte sie ihre Schritte und ging die serpentinenartige Straße herunter. Selbst aus einiger Entfernung hörte sie noch Wortfetzen wie „multipler Orgasmus“ und „blutige Muschi“. Sie hatte Angst, dass ihr Herz plötzlich aussetzte oder dass sie ohnmächtig wurde. Aber mit letzter Kraft setzte sie verbissen einen Fuß vor den anderen und sah zu, dass sie Land gewann. Es war einfach unglaublich, was sich heutzutage für Typen im hehren Academia herumtrieben.
Und trotz aller Unannehmlichkeiten hatte sie eine entscheidende Information erhalten. Sie musste sich an Hans-Peter heranmachen. Blieb nur zu hoffen, dass der nicht auch so ein Widerling war.
8.20. Oktober 2020, Stuttgart, Hauptfriedhof
Auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof herrschte an einer überschaubaren Stelle reger Betrieb. Die gesamte Friedhofsanlage war gepflegt. Auch hier schienen sich die schwäbischen Attribute der Reinlichkeit zu bestätigen. Der Weg zwischen den Gräbern verlief kerzengerade. Eine neu ausgehobene Grube verriet den traurigen Anlass für den Trubel.
Die Blätter der Bäume hatten sich bereits verfärbt und hier und dort lag bereits etwas Laub am Boden. Ansonsten gab es keinerlei Hinweise darauf, dass es bereits Mitte Herbst war. Ganz im Gegenteil. Die Wetterkapriolen der letzten Wochen setzten sich unbeirrt fort. Denn „Goldener Oktober“ war im Moment eher ein metaphorischer Euphemismus für die knapp unter 30 °C liegende Temperatur und die kräftige Sonne, die mit unerbittlicher Kraft herabschien. Eigentlich, dachte Georg, ist das kein passender Rahmen für eine Beerdigung. Aber, was war schon für eine Beerdigung angemessen? Eine Beerdigung assoziierte er mit schlechtem Wetter – entweder Regen oder mit unerbittlicher Kälte, auch wenn sich dies nicht mit seinen tatsächlichen Erfahrungen deckte. Er schwitzte in dem schwarzen Anzug aus dickem, englischem Stoff, der aus der vornehmen Savile Row in London stammte – ein weiteres Geschenk seines in den Vereinigten Staaten von Amerika lebenden Onkels.
Trotz der hohen Temperaturen hielt er es für angemessen, Frieda mit feierlicher Kleidung aus diesem Leben zu verabschieden. Jetzt erhielt er die Quittung für seine hehren Absichten. Aber er litt nicht alleine, denn auch andere Trauergäste schwitzten gewaltig, obwohl sie die Wahl ihrer Kleidung an der Wettervorhersage orientiert hatten.
Georg studierte die Gesichter – die zahlreichen Sonnenbrillen spielten ihm diesbezüglich einen Streich. Er erkannte dennoch Emotionen wie Trauer, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit, aber auch Gleichgültigkeit. Der Kreis der versammelten Trauergemeinde war überschaubar. Immerhin erkannte er zwei, drei Gesichter aus vergangenen Studientagen. Friedas Eltern waren vor Gram gebeugt. Sie waren aus Hessen angereist. Georg dachte darüber nach, ob es wirklich etwas Schlimmeres geben konnte, als das eigene Kind begraben zu müssen.
Der übergewichtige – der Herr hat es uns gegeben und meine Frau hat es vorzüglich gekocht! – evangelische Pfarrer spreizte gewichtig seine Arme, wobei die geöffneten Handflächen gen strahlendblauen Himmel zeigten. Er sprach die altbekannten Worte aus der Bibel, denen Georg nur mit einem Ohr folgte. Vielmehr fokussierte er einen besonders feierlichen, imposanten Kranz mit der Aufschrift „In Memoriam Frieda – Prof. Dr. Dr. h.c. Meyer“. Die in noblem Gelb gehaltene Kranzschleife war der Länge nach mit grüner Schrift bedruckt. Georg beschloss, Meyer zu fragen, wieso der Kranz ausschließlich aus roten Rosen bestand, obwohl eine plausible Schlussfolgerung nicht allzu schwierig war. Das war beinahe schon zu auffällig – ganz so, als lege es jemand darauf an. Daneben lag ein Kranz, der von Friedas Fakultät stammte. Auch er enthielt verdächtig viele Rosen, aber nicht ausschließlich rote und zudem noch andere Schnittblumen wie Nelken. Georg wusste, dass Meier der amtierende Dekan von Friedas Fakultät war.
Meyer befand sich drei Plätze vor ihm in der Schlange, die sich vor dem Grab gebildet hatte. Er war ein großer, athletischer Mann. Georg kannte ihn bereits seit Studienzeiten. Inzwischen war Meyer vom eher schlaksigen Jüngling zu einem ansehnlichen Silberrücken gereift. Eine junge, attraktiv aussehende Frau in einem kurzen und tendenziell zu knapp geschnittenen schwarzen Kleid begleitete ihn. Sommer widmete ihr deutlich mehr Aufmerksamkeit als anderen anwesenden Kolleg*innen, die eher seinem Rang entsprachen. Als Georg an die Reihe kam, nahm er die pittoreske Schaufel und schüttete etwas Erde auf den in der Sonne gleißenden, braunen Sarg. Für eine Sekunde hielt er inne und schloss die Augen.
„Mach es gut, Frieda“, murmelte er kaum vernehmbar und sandte noch einige Bitten an ein höheres Wesen, von welchem er annahm, dass es Alles aus dem Nichts geschaffen hatte.
Dann deutete er einen Diener an und machte Platz für den nächsten Trauergast. Friedas Eltern schüttelte er mitfühlend die Hand und sprach einige wohlgesetzte und deutlich artikulierte Worte des Bedauerns. Die alten Leute taten ihm leid, da er ihren alle Poren durchdringenden Schmerz bis in seine letzte Faser spürte. Er wollte sich dadurch aber nicht zu sehr in seiner Wahrnehmung beeinträchtigen lassen und verabschiedete sich mit einer salbungsvollen, gut gewählten Phrase.
Als er Meyer erreichte, äußerte er eine ziemlich belanglose Mitleidsbekundung, öffnete dann zunächst langsam die rechte Handfläche und streckte sie freundschaftlich seinem alten Bekannten hin.
Meyer musterte Georg einen Augenblick zu lange. Dann nickten sich die Männer unmerklich zu und Meier schlug ein. Der Händedruck war abartig und ein stechender Schmerz durchfuhr zuerst die Finger und dann den rechten Unterarm. Das Knacksen war beinahe eine logische Folge.
„Oh, ich bin auch sehr erfreut, dich nach so langer Zeit mal wieder zu sehen, Hermann“, sagte Georg mit sanfter Stimme, wobei er kaum merklich den Mund verzog und seine Finger vorsichtig schüttelte, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung war.
Meyer grunzte zustimmend. Seine hübsche, junge Begleiterin war vorsorglich knapp zwei Meter zurückwichen, was Georg nicht entgangen war.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, meinte Georg.
Meyer zuckte gleichgültig die Schultern.
„Das Leben ist voller Rätsel. Wir wissen nie, was in den Anderen wirklich vor sich geht“, antwortete er in perfektem Hochdeutsch, obwohl er Schwabe war.
Wohl wahr, dachte Georg.
„Ich hoffe, dass deine Forschungsprojekte jetzt nicht gefährdet sind, weil deine wichtigste Mitarbeiterin nicht mehr unter uns weilt.“
Bei „wichtigster Mitarbeiterin“ verriet sich Meyers junge Begleitung durch ein Lächeln.
„Es wäre ein Jammer, wenn dir dadurch der Nobelpreis durch die Lappen gehen würde.“
Meyer schien die Bemerkung ernst zu nehmen.
„So tragisch es ist, aber ‚The show must go on‘, wie es so treffend heißt“, entgegnete er kalt. „Mit Ereignissen wie diesen müssen wir ständig rechnen. Das darf doch nicht unsere Forschungsagenda, unser Streben nach Fortschritt für die Menschheit, wissenschaftlicher Exzellenz und unserem Trachten nach Preisen und Auszeichnungen durcheinanderbringen.“