Mörderklima. Stefan Schweizer

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Mörderklima - Stefan Schweizer

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Zeigern schlug Mitternacht und damit gehörte das Heute der Vergangenheit an. Es lag ihm fern unhöflich zu sein oder gar enerviert zu klingen, aber es war spät und auf seinem Schreibtisch wartete jede Menge Arbeit und an seine erste morgige Vorlesung wollte er gar nicht denken. 9.15 Uhr! Eine derart frühe Vorlesungszeit sollte Juristen oder Ökonomen vorbehalten bleiben. Bei den Medizinern fingen die Veranstaltungen zum Teil bereits um 8.00 Uhr an. Einfach unmenschlich. Um diese Uhrzeit kostete es ihn viel Energie zur Hochform aufzulaufen, während ein zwei Stunden später alles wie von selber lief. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass der Dekan es auf ihn abgesehen hatte, zumal der Vorlesungssaal etwas abseits von den üblichen Veranstaltungsorten lag und er von seinem Büro dorthin recht lange benötigte. Das war die Retourkutsche dafür, dass er ihn vor Jahren bei einer Fakultätsratssitzung einen zwanghaften Erbsenzähler genannt hatte – obgleich er betont hatte, dass das in Parenthese zu setzen sei. Pah! Empiriker! Wie sehr er diese wissenschaftliche Spezies verabscheute. Abgrundtief und von ganzem Herzen.

      „Hast du inzwischen einen Ruf erhalten?“, ließ Frieda nicht locker. „Oder einen populärwissenschaftlichen Bestseller geschrieben? Die Villa gehört doch nicht etwa einer Burschenschaft, deren Ehrenvorsitzender du geworden bist“, lachte Frieda, die genau um die Abwegigkeit ihrer Ausführungen wusste, denn Georg war es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer nur um Wahrheit und Wissenschaft und nie um Vereinsmeierei oder Politik gegangen. „Ja, ich weiß, deine Familie ist nach wie vor sehr vermögend“, rief sie sich dann selber zur Räson und fuhr umso kopfloser fort, „wobei du persönlich ja nie an einem goldenen Schnitt interessiert warst.“

      Georg bemühte sich, nicht zu schlucken und seine Gesichtszüge entspannt aussehen zu lassen. Auf der anderen Seite musste man nicht Miss Marple sein, um zu schlussfolgern, dass er sich dieses Anwesen nicht von einem Gehalt als Wissenschaftler leisten konnte.

      „Deine Vita hat sich sicherlich zum allerbesten entwickelt“, drehte er den Spieß um. „Erzähle, wie es dir ergangen ist. Es sind schließlich einige Jährchen seit unserem letzten Kontakt vergangen.“

      Frieda hüstelte. Ein wenig schoss ihr die Röte ins Gesicht. Dann herrschte Sauerstoffmangel, was sie elegant kaschierte, indem sie die Hand vor das Gesicht hielt. Sie hüstelte erneut.

      „Ähm, da gibt es nicht viel zu erzählen …, ich bin Senior-Researcherin an der Universität Stuttgart“, gestand sie schließlich.

      Georg runzelte die Stirn.

      „Verbeamtet?“

      „Nicht einmal eine unbefristete Stelle“, gestand Frieda kleinlaut. „Aber momentan sieht es ganz gut aus. Mein Chef hat sich für mich eingesetzt und wenn nichts dazwischen kommt, könnte die Tinte demnächst getrocknet sein.“

      Mit einer vielsagenden, eleganten Handbewegung wischte Georg das Thema vom Tisch.

      „Geld und Sicherheit sind nicht alles. In unserem Beruf geht es um andere Werte.“

      Nämlich um Wahrheit, Fortschritt, Ruhm und Ehre. Reputation und wissenschaftliche Titel. Ein weiterer Schlag ins Kontor. Beschämt senkte Frieda den Kopf. Okay, er würde jetzt wieder nett und taktvoll sein. Und nicht darauf rumhacken, dass sie mit Mitte vierzig nicht habilitiert war.

      „Gute Forschung braucht Zeit“, gab er sich versöhnlich und konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. „Ich habe in zehn Monaten promoviert und vierundzwanzig Monate für die Habilitation gebraucht, aber je nach Forschungsgebiet, Forschungsfrage und Forschungsdesign kann das …“

      Frieda behagte die Richtung des Gesprächs nicht. Deshalb versuchte sie die emotionale Schiene, um in sicherere Gefilde zu gelangen.

      „Weißt du noch, wie wir damals …“

      Dann folgte eine unzusammenhängende Aneinanderreihung belangloser Fakten, die keinen vernünftigen Menschen interessierten. Frieda war offensichtlich trotz vorgerückter Stunde nicht bereit, auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen.

      Natürlich wusste Georg allzu gut, wie sie damals beinahe zusammengekommen wären, hätte er nicht seine große Liebe Anna kennengelernt. Wer konnte schon sagen, wie sich alles entwickelt hätte. Aber wie lange war das jetzt her? Beinahe nicht mehr wahr. Und dennoch zerriss ihm der Gedanke an die damalige Zeit beinahe die Brust, denn seine über Alles geliebte Anna versetzte ihm bei jedem Gedanken an sie einen tiefen Stich in die Brust. Jetzt war es an ihm, Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

      „Du hast von einem Wissenschaftsskandal gesprochen“, rief er sich zur Vernunft, um nicht in Depression und Trübsal zu verfallen, wobei er ein Lächeln aufsetzte, das vielleicht als arrogant hätte ausgelegt werden können, hätte nicht ein grundaufrichtiger Zug seine Gesichtszüge dominiert. „Vielleicht möchtest du mich aufklären“, fügte er im leicht ironischen Tonfall hinzu. „Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Aus leidvoller Erfahrung bin ich weit davon entfernt, die Wissenschaft als hehres Elysium zu betrachten, kann mir im Moment aber beim besten Willen nicht vorstellen, auf was du anspielst.“

      Er unterdrückte ein Gähnen. Frieda räusperte sich und Georg hatte den Eindruck, dass sie ein wenig erblasste, was aber bei den schummrigen Lichtverhältnissen nicht genau zu erkennen war.

      „Ja.“

      Sie holte tief Luft und wich seinem Blick aus. Dann gab sie sich einen Ruck.

      „Es geht um …“

      Sie ließ die Bombe so nonchalant hochgehen, als würde sie Tante Ingeborg erzählen, welchen Kuchen sie vorgestern in der Mensa zum Nachtisch gegessen hatte: manipulierte Daten, Hochpolitisches und dreistellige Millionenbeträge. Mit einem Schlag war Georg elektrisiert.

      „Das hört sich in der Tat nicht uninteressant an“, flüsterte er und verwendete seine typische Art des angelsächsischen Understatements. „Vielleicht besitzt du die Güte, mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Deine Beschreibungen entsprechen zwar meiner Vorliebe für das Abstrakte, dennoch sollte ich präzise Anhaltspunkte erhalten.“

      Manchmal glaubte er, dass ein Poet an ihm verloren gegangen war. Auf der anderen Seite war ja durchaus bekannt, dass Poesie und Wissenschaft gleichermaßen die metaphorische Sprache zum Kern ihrer Kommunikationen erkoren hatten. Er erinnerte sich mit diebischer Freude daran, wie er das Metaphern-Forschungsprojekt eines Kollegen der Neueren Deutschen Literatur als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – nun sagen wir mal – kritisch durchleuchtet hatte. Er stellte sich vor, dass das Gesicht des Kollegen bei der Gutachtenlektüre die Farbe von Roter Bete angenommen hatte, denn er hatte so manche – durchaus berechtigte! – Spitze in das Gutachten gepackt. Natürlich war das Projekt bewilligt worden, aber in der Wissenschaftslandschaft verletzte ein wohl gesetztes Wort manchmal mehr als tausend Beleidigungen.

      Frieda sank in dem repräsentativen, bequemen Ledersessel, der mit rotem, weichem Leder bezogen war, in sich zusammen und gab einen lauten Seufzer von sich.

      „Jetzt würde ich gerne den italienischen Rotwein probieren.“

      Georg brachte ihr das Gewünschte und fragte frei heraus, wen ihr Verdacht betraf, damit er das Terrain abstecken und sie zum Kern der Sache kommen konnte.

      Sommer? Es hätte Georg nicht mehr überrascht, wenn Frieda ihm mitgeteilt hätte, der Papst sei Ehrenvorsitzender der Evangelischen Kirchensynode geworden oder Josef Stalin habe posthum den Friedensnobelpreis erhalten.

      „Ich konnte es auch nicht glauben“, stimmte sie ihm zu.

      Aber anscheinend gab es eindeutige Hinweise. Georg glaubte nicht, was er da hörte und

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