Mörderklima. Stefan Schweizer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Mörderklima - Stefan Schweizer страница 4
Zum vollendeten, ambitionierten Weingenuss gehörten für Georg die Wahrnehmungen und Empfindungen des Auges, der Nase und des Gaumens. Aber im Moment war er zu belegt, um seine Sinneswahrnehmung voll zu entfalten. Ohne einen Schluck zu kosten, setzte er das Weinglas wieder ab und schrieb:
Obwohl der Klimawandel die Menschen vieler Epochen vor große Herausforderungen gestellt hat, bedeutet der heutige, anthropogen verursachte Klimawandel eine Gefahr, wie sie bis dato für unsere Spezies noch nie existierte.
Georg verabscheute unkultivierte Sitten und dennoch konnte er sich ein leises „Verflixt und zugenäht!“ nicht verkneifen. Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad im zweiten Satz? Dadurch tat er sich keinen Gefallen, denn so räumte er in seinem kulturgeschichtlichen Aufsatz dem aktuellen Problem des menschlich verursachten Klimawandels eine Bedeutung ein, die dieser nicht besaß.
Die Bedeutung des heutigen Klimawandels zu untersuchen, wollte er dann doch lieber den Naturwissenschaftlern, Soziologen und Juristen überlassen. Oh, wie ihm diese einfach strukturierten Disziplinen und ihre Vertreter zuwider waren … Idealerweise sollte er erst am Ende des Aufsatzes den Bezug zur Gegenwart herstellen und dabei auf die mit dem Klimawandel verbundenen Gefahren hinweisen, wobei er mit Bewunderung an die junge schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg dachte, die es in ihren Reden in einfachen Worten verstand, zum Kern der Sache vorzudringen. Er nahm einen Schluck Wein und balancierte das edle Rebengewächs im Mund, damit die Aromen-Intensität zur Entfaltung kommen konnte.
Der Aufsatz für ein angesehenes Fachjournal mit hohem Impact-Faktor erwies sich als Herkules-Aufgabe, hatten sich schon die Vorarbeiten als mühsam erwiesen. Er musste schließlich alles selbst erledigen, da er weder über eine Sekretärin noch über Mitarbeiter oder studentische Hilfskräfte verfügte. Doch Herausforderungen wie diese gaben ihm eine tiefe innere Befriedigung. Da er alles alleine auf die Beine stellte, hatte er die Gewissheit, dass alles passte, sauber erarbeitet war und jedem kritischen Blick standhielt. Seine wissenschaftliche Reputation bedeutete ihm viel, und es gab nur eine Sache, der er noch mehr Bedeutung zumaß …
Wenn nur dieser knifflige Anfang nicht wäre. Sobald dieser gelungen war, würde sich der Rest von selbst schreiben, dessen war er sicher. Beethovens Fünfte ertönte leise, bis sie schließlich laut vernehmbar war – das Telefon!
Er warf einen Blick auf die mit einem silbernen Armband und blauem Gehäuse versehene Patek Philippe. Kurz vor 22.00 Uhr. Wer konnte das sein? Eine Kollegin oder ein Kollege? Um diese Uhrzeit eher unwahrscheinlich. Eine Studierende, die fachlich weder ein noch aus wusste oder ihm ihr Herz ausschütten wollte? Wäre nicht das erste Mal. Trotz seiner hehren wissenschaftlichen Aura und seines mitunter distanziert-spröden Umgangs mit Studierenden außerhalb des Hörsaals, übte er aufgrund seines Aussehens und Charismas eine nicht zu unterschätzende Faszination auf die weibliche Hörerschaft aus. Oder war es Tabea? Aber sie hatten vereinbart, dass sie sich erst meldete, wenn sie wieder zurückgekehrt war …
Er eilte über die sachte knirschenden Holzbohlen zum Festnetzanschluss, der aus dem letzten Jahrtausend zu stammen schien.
„Georg Graf von Gleiwitz“, meldete er sich mit einer angenehm klingenden, tiefen Stimme, die nichts von der Spannung Preis gab, wer am anderen Ende der Leitung zu erwarten war.
Einen Augenblick lang herrschte Stille im Äther. Dann vernahm er leises, aber aufgeregtes Schnaufen.
„Georg?“
Die weibliche Stimme kam ihm trotz der schlechten Verbindung bekannt vor.
„Georg, bist du das?“
Er war nicht sicher, wem die Stimme gehörte. Bevor er den Fehler machte, sich mit einer Studentin auf Du und Du zu stellen, fragte er lieber nach.
„Frieda“, wurde er aufgeklärt.
Frieda? Wenn er doch nur drauf käme … Frieda? War das die kleine, ein wenig abwesend wirkende Blondine, die ihn immer mit offenem Mund und dumpfen, wässrigen blauen Augen aus der ersten Reihe anstarrte, während er sich über die schwierigsten Fragen der Menschheits- und Kulturgeschichte erging?
Nein …
„Von Fritsch.“
Frieda von Fritsch! Aber klar! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Eine seiner Mitstreiterinnen vor unzähligen Jahren. Gemeinsam waren sie aufgebrochen, um die Welt der Wissenschaft im Sturm zu erobern und nun hatte sie die Realität eingeholt und ihnen die allzu glänzenden Illusionen geraubt.
„Ich muss mit dir reden, Georg!“
Die Worte waren schwer zu verstehen und Georg wusste nicht recht, ob es an der schlechten Verbindung lag oder ob Frieda zu aufgeregt war, um deutlich zu sprechen. Dem stünde ja nichts im Wege, gab er sich zurückhaltend.
Doch Frieda hauchte ein gepresstes „dringend, persönlich und unter vier Augen“ in den Hörer.
„Hat das nicht noch ein wenig Zeit?“, versuchte er sich ein wenig Luft zu verschaffen. „Kommende Woche würde es mir am Wochenende gut passen.“
Friedas Entgegnung war eindeutig: „Sofort! Ich bin einem Skandal auf der Spur, der die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird.“
3.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven
Es fiel ihr nicht leicht, die steilen Treppen hochzusteigen, was sich an ihrer heftigen Atmung zeigte. Sie spürte jeden einzelnen Chips, von den unzähligen Schokoladeneisen ganz zu schweigen, die sie abends gerne vor dem Fernseher genoss, während sie Filme über die Natur und Tiere oder noch lieber Lifestyle-Sendungen anschaute und Menschen bewunderte, mit denen sie nie Kontakt haben würde. Aber sie konnte ohne diese kleinen Schwächen einfach nicht sein. Denn dann wäre ihr Leben gänzlich ohne Freude und damit sinn- und zwecklos. Schon traurig, wenn es so weit mit einem gekommen war, aber diese kleinen Sünden gaben ihr Kraft und Energie, die Strapazen des Alltags auszuhalten. Die Metallstufen ragten hoch in ein dunkles Nichts und der Steigungswinkel war abenteuerlich. Sie keuchte und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. So etwas konnte nicht einmal Fitness-Freaks Spaß machen, von Schreibtischtäterinnen wie ihr ganz zu schweigen. Die Beleuchtung war spärlich – hier musste der Prototyp ohne Frage noch optimiert werden, wenn er für soziale Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen sollte. Wenn das kein Anlass war zu beschließen, mehr auf ihr Gewicht zu achten und Sport zu treiben, dann würde es einen solchen nicht mehr geben. Aber immerhin hatte die dumme Kuh hinter ihr auch ihre Probleme mit den schwierigen Rahmenbedingungen. Wenn man so dämlich war, für dieses Abenteuer moderne, pinke Stiefeletten mit gewagten Absätzen anzuziehen, konnte einem nicht geholfen werden. Oder? Sie hörte, wie diese fiese Pseudo-Lesbe, die ihr Coming-Out noch vor sich hatte, immer wieder in den quadratischen Hohlräumen der Leiter hängenblieb. Ha, das geschah ihr recht und vielleicht sollte sie anregen, dass in den nächsten Expertenbericht eingefügt wurde, die Treppen sollten für alle Altersklassen und jeden Modestil passen, damit die Bevölkerung möglichst keinen Stein des Anstoßes fand. Dennoch beunruhigte sie die Vorstellung, was dieses von Hass erfüllte Weib von ihr wollte. Berufliche Vernichtung? Im Ernst? Oder billige Rache für früher? Das war doch wohl nichts als ein schlechter Scherz. Sie versuchte lediglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Natürlich gab es unbefristete und vor allem besser bezahlte Jobs, aber bei ihrem Posten saß sie sicher im Sattel. Da gab es kein Wenn und Aber … Und was war, wenn …? Jetzt schnürte