Mörderklima. Stefan Schweizer
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Ihre Überlegenheit war auf einen Schlag verschwunden. Stattdessen breiteten sich Fragezeichen, Zweifel und Angst auf ihrem Gesicht aus. Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie diesen Augenblick für die Ewigkeit auf Zelluloid gebannt. Oder in einem Gemälde.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, setzte sie nach und schloss die schwere Sicherheitstüre auf, die in das Innere des Windrads führte. „Dazu müssen wir nach oben“, fügte sie hinzu und zeigte auf den steilen Aufstieg, der aus einer einfachen Metallleiter bestand.
Jetzt bebte sie vor Freude, da sie pure Panik bei der ihr seit Jahren verhassten Person spürte. Diese Vibes verschafften ihr ein unvergleichliches High. Oh, es war so unbeschreiblich schön, Macht zu besitzen und einen anderen Menschen zu zerstören.
„Nach dir, bitte!“, zirpte sie mit ihrer süßesten Stimme. „Es wird nicht lange dauern.“
Voller Vorfreude stellte sie sich das Erstaunen vor, wenn sie die Bomben platzen lassen würde. Das hatte nicht nur etwas mit dem Beruf zu tun, sondern lag im zutiefst persönlichen Bereich … Das Glück, das sie bei dieser Vorstellung verspürte, bedeutete ihr inzwischen beinahe alles.
Jetzt, da sie auf der Plattform angelangt war, war sie erstaunt, wie schlecht alles abgesichert war. Es machte einen gewaltigen Unterschied aus, über Dinge in der Theorie zu schreiben und sie dann Realiter zu sehen. Auf der anderen Seite waren Ingenieure und Konstrukteure für die Herstellung des Produkts verantwortlich, während sie sich um die ökonomischen Aspekte kümmerte. Bei ihr ging es um andere, aber nicht minder wichtige Fragen, als die der Stabilität und Funktionalität. Das die Gondel bis zur Nabe umzäunende Außengeländer ging ihr zwar bis knapp über die Hüfte, bestand aber nur aus zwei Drahtseilen. Der Abstand zwischen den Seilen war abenteuerlich groß. Natürlich würde die Sicherung bei dem Windkraftrad ganz anders aussehen, sollte es in Serie hergestellt werden. Wenn sich schließlich Anwohner*innen und Tourist*innen auf die Plattform begaben, um die sie umgebende Natur zu bestaunen und eventuell sogar noch ein Getränk zu konsumieren, dann mussten besser schützende Geländer her. Windkrafträder mit Aussichtsplattform gab es bisher nur ganz selten in der Welt und ein solches wie hier noch nirgends sonst. Das konnte sich aber bald ändern, glaubte man den neuen Forschungsergebnissen. Die integrierte Aussichtsplattform zu besseren Akzeptanzzwecken war ein Novum und sollte die deutsche Energiewende entscheidend voranbringen. Die Aussichtsplattform an sich war zwar nicht neu, aber die Konzeption sah ja vor, dass diese ein wesentliches Element der Windkraftanlage sei, um deren soziale Akzeptanz zu fördern. Wie ein Mantra hatten die Sozialwissenschaftler den einfachen Gedanken erklärt: Wenn die Menschen erst die wunderbare Aussicht von dem Windrad entdeckten, so der Gelehrte der Gesellschaftswissenschaften, dann wären sie in der Lage, es als wichtigen Bestandteil ihrer natürlichen Umgebung anzusehen. Natürlich war die hiesige Plattform ein Provisorium. So etwas wäre für den öffentlichen Zugang äußerst riskant. Aber den am Projekt beteiligten Wissenschaftler*innen traute man offensichtlich zu, dass sie nicht Gefahr liefen, zwischen den Stahlseilen in die Tiefe zu stürzen. Als knallharte Ökonomin hielt sie den sozialen Aspekt der Akzeptanz für übertrieben, unnötig und viel zu kostspielig. Aber so war das mit inter- und transdisziplinären Wissenschaftsprojekten eben. Jeder noch so kleine und häufig unnötige Wunsch musste berücksichtigt werden.
Sie erinnerte sich, vor Kurzem selbst in einem Forschungsbericht geschrieben zu haben, dass es sich bei der Windkraftanlage um einen vielversprechenden, sprich lukrativen, Prototypen handelte, an dem einige Riesen der Energiewirtschaft brennend interessiert waren, was vor allem mit technischen Neuerungen bei der Stromproduktion zusammenhing. Bis das Ding aber Produktionsreife erlangte und die fette Kohle brachte, vergingen einige Jahre. Und dann gab es ja noch Leute wie ihre Feindin, die nach der gesellschaftlichen Akzeptanz eines solchen technischen Geräts fragten. Als ob es nichts Sinnvolleres zu tun gäbe. Ach, wie einfach es wäre, jemanden hier in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Das wäre eindeutig simpler, als das volle Programm durchzuziehen. Auf der anderen Seite würde diese Vorgehensweise ihrer Feindin die unsäglichen Leiden und Qualen ersparen, die sie feinsinnig und detailliert ersonnen hatte. Also, wieso nur hegte sie solch düstere Gedanken, die sie um den Ertrag ihrer mühsamen Arbeit bringen würden? Weil ihr bitterkalt war? Weil sie außer Atem war – wegen der vielen Stufen? Weil sie ihre neuen Stiefeletten ruiniert hatte? Weil sie nicht wusste, wie die andere reagieren würde? Vielleicht war ihr ja alles gleichgültig und sie nahm es anders auf als geplant? Nein, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn in ihren Plänen hatte sie jede feine Nuance bedacht. Also, wenn sie es bei rechtem Licht besah …
2.21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt
Draußen stürmte es heftig, die düsteren Wolken zogen hastig über das Firmament. Noch regnete es nicht. Georg überlegte scharf und legte seinen Kopf vertrauensvoll in seine beiden langgliedrigen, aber feinen Hände, die sich samtweich anfühlten. Ein Blick aus dem hohen, beinahe bis zum antiquierten Kirschbaumparkettboden reichenden Fenster zeigte ihm, wie schön und behaglich es drinnen war. Die pompös angelegte Gartenanlage befand sich im Dunklen, während Bäume, Sträucher und andere Pflanzen vom Wind wie Spielzeug hin und her geschüttelt wurden. Lediglich der mit Wappen und Adligen aus vergangener Zeit verzierte Marmorbrunnen in der Mitte der Kiesauffahrt, die sich irgendwo im Nichts verlor, zeigte sich von den Wetterkapriolen unbeeindruckt.
Georg massierte sich sanft mit seinen Fingerspitzen die hohen, edlen Wangenknocken, um die Anspannung ein wenig zu lösen. Das seinem Mund entweichende, eher banale und nichtssagende „Uff!“ stand ein wenig im Kontrast zu seiner exquisit gekleideten Person, die sowohl einem ersten, als auch einem zweiten Blick standhielt.
Aller Anfang ist ja bekanntlich schwer, aber dieser hier hatte es ganz besonders in sich. Er presste die vollen, aber fein geschwungenen Lippen entschlossen aufeinander und seine hellblauen Augen funkelten vor Energie und Lebensfreude. Sorgfältig wägte er die Worte ab und spielte mehrere Satz-Varianten im Geiste durch. Aber er war nicht recht zufrieden. Keine der Möglichkeiten schien ihm für sein Vorhaben gut genug zu sein. Wie musste der erste, perfekte Satz eines wissenschaftlichen Aufsatzes aussehen? Eigentlich ein einfaches Unterfangen, denn er musste so eindrücklich und so wahr wie möglich sein. Das sagte sich leicht, war aber schwer zu realisieren. Lamentieren half nicht, denn das war sein Job, der ihm Freude bereitete und ihn erfüllte.
Der Klimawandel bildet eine universale, die Menschheitsgeschichte begleitende Konstante, welche das Dasein und das Zusammenleben der Menschen seit jeher geprägt und sogar bestimmt hat.
Ihm war aus seiner Lebenserfahrung heraus klar, dass es bei einer wissenschaftlichen Abhandlung nie bei einem einzigen Versuch eines ersten Satzes blieb. Der ihm jetzt vorliegende Satz traf zwar den Kern der Sache, aber er war dennoch nicht völlig zufrieden.
Georg blickte ein wenig unglücklich auf den gigantischen Computer-Bildschirm. Wenn er nicht etwas mit seinem teuren Füllfederhalter handschriftlich festhielt, arbeitete er ausschließlich hier. Die kleinen Laptop-Bildschirme verabscheute er, denn er war der Meinung, dass die Schreibutensilien einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Qualität des Geschriebenen besaßen. Er kniff die Augen zusammen. Aus kulturgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Perspektive gab es am Wahrheitsgehalt des Satzes nicht das Geringste zu deuteln. Aber dennoch setzte er sich mit einem solchen Entree sofort der Gefahr aus, in die Ecke derjenigen gestellt zu werden, die die Bedeutung des Klimawandels herunterspielen. Nichts lag ihm ferner als die Bedrohung, die vom Klimawandel ausging, zu relativieren. Der heutige, vom Menschen verursachte Klimawandel stellte eine der größten Herausforderungen für die Menschheit dar – ja für viele Menschen hing sogar das Überleben davon ab, wie dieser Klimawandelt vor sich ging. Das stand außer Frage. Dennoch, sein Satz war wahr, ohne Wenn und Aber. Doch die Klemme, in der er steckte, löste sich nicht auf. Eine verzwickte Situation und das bereits zu Beginn seines kleinen Werks. Das konnte ja noch heiter werden.
Zerstreut roch er am großen Kristall-Burgunderkelch,