Mörderklima. Stefan Schweizer

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Mörderklima - Stefan Schweizer

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Oktober 2020, nahe Bremerhaven

      Oh mein Gott! Wie sollte sie das nur durchstehen, wenn alle guten Geister und die Nerven sie verließen? Ihre Allüren musste sie schleunigst in den Griff kriegen. Aber sie fühlte sich schlecht wie schon lange nicht mehr. Dabei galt es, Stärke zu zeigen. Jetzt, im alles entscheidenden Moment. Aber ihr war die ganze Zeit über nicht wohl. Erpressung war nicht ihr Ding und schon gar nicht diese perfide Art von Erpressung! So was von gemein und niederträchtig. Ihr wurde schwindelig, am liebsten hätte sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Wenn es nur schon vorbei wäre. Sie zupfte an dem edlen, silbernen Hochkaräter herum, den sie von ihrer Großmutter vererbt bekommen hatte. Sie war nervös, zappelig und verspürte starke innere Unruhe. Was sollte sie tun? Es hing zu viel für sie davon ab. Genau betrachtet ging es um Beruf, privates Glück und ihre Zukunft. Also blieb ihr nichts übrig, als es durchzuziehen. Ohne nach links oder rechts zu schauen. Einfach durch und weiter. Sie schauderte vor Kälte und Anspannung, wobei sie den eleganten und komfortablen Burberry-Trenchcoat fester um sich zog. Sie besaß ein Faible für hochwertige Kleidung. Ohne einer bestimmten Stilrichtung anzuhängen. Ihre Garderobe musste teuer, von erlesenem Geschmack sein und was hermachen. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. 5° Celsius. Vor Kurzem hatte es geregnet. Der Wind pfiff unerbittlich und sie fror wie ein frisch geschorenes Schaf auf einer schottischen Weide, da die feuchte Kälte an ihr hochkroch. Es war heute nicht richtig hell geworden und nun war es am frühen Abend beinahe stockdunkel. Dennoch thronte die verspiegelte und vergoldete Ray-Ban-Sonnenbrille auf ihrem Haupt, die ihr Sicherheit verlieh. Ein goldener Oktober sah anders aus und von Klimaerwärmung war nichts zu spüren. Wer da von globaler Erderwärmung und Gefährdung der Menschheit fabulierte, der sollte sich hierhin stellen und sich seinen Allerwertesten abfrieren. Der Turm ragte wie ein weißer Riese in den Himmel, seine drei Rotorblätter drehten sich schnell. Obwohl kein Ton zu vernehmen war, kam es ihr vor, als ob das Zusammenspiel von Nabe, Rotor und Gondel unheimliche Geräusche verursachte, die wie Ächzen und Wehklagen klangen. Sie erinnerte sich an Berichte über empörte Anwohner*innen, die behaupteten, dass die Windräder Lärm verursachten. Das war umstritten, aber hier herrschte wirklich die Ruhe vor dem Sturm. Mit etwas Fantasie sahen die Rotorblätter aus wie Arme, die anämisch im Kreis ruderten. Wie andere Windkraftanlagen war auch diese auf einem Plateau errichtet worden, damit sie die Windverhältnisse optimal ausnutzen konnte. Bei dieser Kleinwindenergieanlage handelte es sich um den Prototypen eines großen, internationalen Forschungsverbundes. Das Ding war Millionen wert und sollte es sich durchsetzen, winkten immense Gewinne. Der Clou an diesem Windrad war die Aussichtsplattform. Diese Witzfigur von Soziologie-Professor hatte sich doch tatsächlich erdreistet zu behaupten, dass eine Aussichtsplattform auf den Windrädern die soziale Akzeptanz derselben erhöhen würde. Stimmte schon, die meisten Anwohner*innen wollten keine Windkraftanlagen in ihrer Nachbarschaft, da sie die Grundstückspreise senkten – da halfen auch in Aussicht gestellte Kompensationszahlungen nichts. Der Soziologe behauptete, dass es gut wäre, erst einen Prototypen mit der Aussichtsplattform zu bauen und diese dann für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dadurch würden die Anwohner*innen zugleich von einem Nutzen der Windkraftanlage profitieren. Zu vorgerückter Stunde hatte er einmal behauptet, dass es sogar denkbar wäre, eine Bar oder ein Restaurant in das Windrad zu integrieren.

      Mit sich steigernder Verzweiflung blickte sie an dem über hundert Meter hohen Ungetüm empor und das visuelle Ineinander-Übergreifen der Rotoren und der schnell vorbeiziehenden Wolken verursachten ein heftiges Schwindelgefühl. Also blickte sie auf den Boden, stützte sich am kalten Metall des Turmes ab, spähte umher, konnte aber nichts erkennen. Undenkbar fand sie, dass in solch einem seltsamen Bauwerk eine Bar oder Ähnliches wäre. Schon die provisorische Aussichtsplattform da oben war beileibe abenteuerlich genug …

      Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Jetzt nicht durchdrehen. Wenn du cool bleibst, wird alles gut. Dann kannst du erreichen, was du dir vorgenommen hast. Alles, was das Leben dir zu geben bereit ist.

      Ein Blick auf die für ihren Geschmack viel zu kleine goldene Rolex versetzte sie in Rage.

      19.25 Uhr.

      Ihr Tête-à-Tête war zehn Minuten zu spät. Ein absolutes No-Go. Wenn sie etwas hasste, dann war es Unzuverlässigkeit. Das sollte die Schlampe ihr büßen. Schon alleine für die Unverfrorenheit, dass sie sie hier warten ließ, hatte sie die denkbar schlimmste Strafe verdient. Und wenn sie an die Geschichte von früher dachte, die nachdrücklich ihr Leben geprägt hatte, dann schürte es ihr den Hals zu und es fiel ihr schwer, regelmäßig zu atmen. Das war längst nicht vergessen und vergeben gleich gar nicht. Vernichtung hieß ihre Agenda. Auch wenn sie mit dem Weg dahin nicht einverstanden war und der Plan nicht von ihr stammte. Wie kompliziert das alles war und noch werden konnte.

      Plötzlich hörte sie ein scharfes: „Du wolltest mich also dringend sprechen?“

      Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder. Die Stimme kam aus dem Off, überraschte sie in ihrer Gedankenwelt und langsam begriff sie, dass sich ihre Kontrahentin von hinten angeschlichen hatte. Sie musste durchatmen, Kontrolle gewinnen und Sicherheit ausstrahlen. Nicht ganz einfach. Sie überlegte sich, ob sie ihr eine runterhauen sollte, entschied sich aber lieber dafür, die Augen zu schließen und sich eine grüne Wiese vorzustellen. Als sie sie wieder öffnete, lächelte die Tonne boshaft und von oben herab. Aber dieses dümmliche Grinsen würde ihr vergehen, wenn sie alles auf den Tisch gepackt hatte. Schon alleine ihr Aussehen war das Letzte. Sie war mindestens zwanzig Kilogramm zu schwer und ihre adipöse Erscheinung wirkte wie ein gigantischer Schutzwall. Wie manche Männer so etwas mögen konnten, war ihr ein Rätsel. Das hatte mit weiblichen Rundungen und Reizen nichts mehr zu tun. Das war pures Fett und sah fehl am Platz aus. Ihr Gesicht war bestenfalls ein pausbäckiges, dumm drein glotzendes Mondgesicht. Und dann diese furchtbare Kleidung. Ohne Geschmack und Stil. Eine visuelle Katastrophe, die ‚Tritt mich, ich bin hässlich, dumm und fett!‘ schrie. Alle Kleidung in kackbraun – immerhin ging sie mit den Jahreszeiten, hihihi. Bequeme Öko-Treter, bestimmt von Hess Natur oder solch einem Ich-bin-ein-guter-und- verantwortungsvoller-Mensch-Laden, darüber eine feine Stoffhose, die sicherlich nicht günstig gewesen war, aber wie ein Kartoffelsack im Zeltformat wirkte. Die Allwetterjacke verstärkte den Eindruck einer Alternativen-Fair-Trade-Trulla, was durch das elegante Seidentuch, das sie wie einen Schal um den verfetteten Hals gewickelt hatte, konterkariert wurde. Alles sah degoutant aus und passte nicht zusammen. Das Make-up verstärkte den negativen Eindruck. Zum Glück konnte sie die Schminke nicht genau erkennen, denn bei so viel ökologischer Korrektheit und schottischer Sparsamkeit am falschen Fleck wäre ihr vermutlich noch übler geworden. Es passte nichts zusammen und herauskam ein belangloses Sammelsurium, das wie beliebig hin geklatscht wirkte. Und dann wagte sie in ihrer bodenlosen Dummdreistigkeit den Mund aufzumachen und sie blöd von der Seite anzuquatschen, anstatt ihr den nötigen Respekt zu zollen.

      „Findest du es nicht ein wenig melodramatisch, sich ausgerechnet hier zu treffen? Am frühen Abend und ganz alleine? Nicht einmal in mein Büro wolltest du kommen. Möchtest du Feldstudien betreiben oder sicher gehen, dass niemand unser Gespräch mithört? Ist es wirklich so dringlich und geheimnisvoll? Oder machst du dich mal wieder wichtig? Viel heiße Luft um Nichts? Das ist es doch immer gewesen. Ganz viel heiße Luft um Nichts. Nicht wahr?“

      Die dumme Kuh gackerte selbstverliebt los und gluckste ein wenig. Schluss damit! Es war an der Zeit, andere Seiten aufzuziehen und die Initiative zu gewinnen.

      „Hallo meine Süße. Gut siehst du aus. Beinahe wie früher. Nur, dass die viele Schokolade und die unzähligen Bio-Fertiggerichte dich etwas unförmig haben werden lassen. Man sollte auch von dem Bio-Kram nicht mehr als zwei Mahlzeiten am Abend essen. Und Fett bleibt nun einmal Fett, ob biologisch oder konventionell hergestellt. Aber darum geht es nicht. Was ich dir zu sagen habe, wird dein Leben grundlegend verändern.“

      Ein klein wenig verlor die Fassade der adipösen Mitvierzigerin an Selbstsicherheit. Treffer! Ha, das verlieh ihr Auftrieb.

      „Deine berufliche Existenz hängt von mir ab. Das macht dir doch hoffentlich keine Angst.

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