Mörderklima. Stefan Schweizer
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Als sie oben angekommen waren, atmete sie tief durch. Die dürre Schlampe mit dem Nervenschaden schaute sich nervös um. Die schlecht gesicherte Plattform auf dem Windrad schien ihr Angst einzujagen. Oder war es lediglich die Vorfreude auf das, was sie ihr mitteilen wollte? Die Seile zur Absicherung waren ein Witz. Wenn sie jetzt auf ihre Allzeit-Konkurrentin stürzte, dann war diese Geschichte. Für immer.
„Schöne Aussicht hier oben, aber beschissenes Wetter“, brach sie die Stille. „Und dafür hast du dir die Schuhe ruiniert.“
Die Spitze saß. Das Gesicht des Klappergestells verlor die Contenance. Ihr lächerliches Modebewusstsein war nach wie vor ein wunder Punkt … Zeit herauszufinden, was Sache war. Ihr fehlte schlichtweg die Phantasie sich vorzustellen, was Schlimmes kommen sollte.
„Wofür sind wir hier hinauf geklettert? Und was hast du mir zu sagen?“, fragte sie, während es sie Anstrengung kostete, sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.
Ah, dieses fiese Lächeln, das ihr eine böse Gänsehaut bescherte.
„Nun, meine Liebe, das möchte ich dir verraten …“
Als sie geendet hatte, bebte sie innerlich vor Wut. Die Kälte war vergessen. Ebenso die unsäglichen Anstrengungen. Was die Tante ihr gesagt hatte, war ungeheuerlich. So ungeheuerlich, dass sie sich beinahe vergaß. Was hieß da beinahe? Diese Schlampe wollte sie tatsächlich vernichten. Auslöschen! Exitus! Finito! Sie versuchte etwas zu entgegnen, brachte aber nur unverständliches Gestammele zustande.
„Da bist du aber ziemlich perplex, meine Liebe“, drang die vor Hohn und Boshaftigkeit triefende Stimme an ihr Ohr. „Da geht dir endlich mal der Arsch auf Grundeis. Das geschieht dir ganz recht und war längst überfällig. Da helfen dir auch keine Öko-Chips-Packungen oder Fair-Trade-Schoki weiter.“
Barbara hatte Mühe, Luft zu bekommen.
„Und in Sachen Männern hat sich das Blatt auch gehörig gewandelt, du Schlampe! Ich konnte nie verstehen, was die Herrenwelt an solch einer fetten Tonne wie dir finden konnte. Mir liegen nun nicht nur ältere, sehr arrivierte Herren zu Füßen …“
Oh, eindeutig eine Anspielung auf ihren Chef. Dieser gutaussehende, erfolgreiche Mann würde sich doch nicht freiwillig für eine alte Schachtel wie …
„… sondern auch ganz junge, knackige Kerle. Bei uns im Institut gibt es einen Doktoranden, Markus, der ist sooo fantastisch im Bett, dass du dir keinen Begriff machst. Du kannst ja mal auf unserer Instituts-Homepage nachschauen, dort gibt es ein kleines, süßes Bild von ihm oder aber auf Facebook, dort zeigt er sich etwas freizügiger beim Sport …“
Ihre weiteren Bemerkungen waren so taktlos wie ein mit Wodka abgefüllter Russe. Trotz der herrschenden Dunkelheit versuchte sie jetzt ihrer Todfeindin in die Augen zu schauen. Aber da war nur diese alberne, verspiegelte Sonnenbrille. Das Gesicht war eine lächerliche Fratze. Sie spürte eine Wut in sich emporsteigen, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Ihr Inneres glich einem Vulkan, der kurz vor der Eruption stand. Durch die Wut gelangte sie zur Erkenntnis, dass dieses Problem nur auf eine bestimmte Art aus der Welt zu schaffen war. Dieser Gedanke traf sie wie ein heftiger elektrischer Schlag, während ihre Gesprächspartnerin sich in ihrem Sieg suhlte. Für alles im Leben gab es ein erstes Mal. Sie schloss die Augen und sammelte physische und psychische Energien. Keine Frage, der heutige Tag hatte ihr Leben grundlegend verändert. Und er war noch nicht vorbei. Entschlossen machte sie zwei kleine Schritte nach vorne, packte ihre Kontrahentin mit aller Kraft an den Schultern und sagte mit einer sie selbst erschreckend tiefen Stimme „Das hast du nicht umsonst gemacht, du Schlampe!“
Danach wurde alles schwarz.
4.21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt
Obwohl sie am Telefon versichert hatte, in zwei Stunden da zu sein, musste Georg eine Stunde länger warten.
Irgendwie hatte er Frieda anders in Erinnerung gehabt. Natürlicher, bodenständiger und warmherziger. Ihr Gesicht war spitz und ein wenig verhärmt. Vor etlichen Jahren hatte sie doch besser ausgesehen, oder? War das nur die Erinnerung, die ihm einen Streich spielte? Klar, sie wurden alle älter. Ihre Garderobe war wie früher stilvoll, exquisit und dennoch gewagt für eine Frau in ihrem Alter und mit ihrem Beruf. Weder nuttig noch schlampig, dennoch mutig. Es lag auf der Hand, dass sie etwas kompensierte, das nichts mit ihrem Äußeren zu tun hatte.
„Schön hast du es hier“, behauptete sie mit einer nasalen, einen affektiven Klang kultivierenden Stimme.
Georg war sich nicht sicher, ob Frieda ihre Aussage aufrichtig meinte. Natürlich machte sein „Salon“ Eindruck. Er war riesig – verglichen mit den meisten Wohnzimmern, die es heute gab. Aber das war in der Gegend, in der er wohnte, schließlich nicht anders zu erwarten. Die Berliner Vorstadt in Potsdam wies eine Villen-Dichte auf, von der andere Städte nur träumen konnten. Und die feudalen Anwesen hier hatten nichts mit modischem, neureichem Schnickschnack zu tun, sondern stammten aus einer Zeit, in der Stil und Kultiviertheit noch an der Tagesordnung waren. Dennoch hatte ihm manch einer seiner Gäste mehr oder weniger offen kommuniziert, dass sie die Villa ziemlich „retro“ fanden. Point taken, aber er war vertraglich dazu verpflichtet, nichts in der Villa oder auf dem Grundstück zu verändern.
Das Feuer loderte behaglich im Kamin und das alte Holz an den Wänden strahlte eine urige Behaglichkeit und Wärme aus. Aber der Kronleuchter und die alten Polstermöbel wirkten très Old School, um nicht zu sagen, out of date.
„Wie bist du denn zu diesem Schuppen gekommen?“, fragte Frieda mit spitzer Zunge und schnitt eine vielsagende Grimasse. „Das ist ja unglaublich hier. Schön und alt und gediegen.“
Im zweiten Satz legte sie Erstaunen und Bewunderung an den Tag, doch den ersten hatte er nicht vergessen. Obacht. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste und Georg hatte keine Lust, jemandem auf den Leim zu gehen. Aber das war genau die Frieda, die er in Erinnerung hatte. Frieda war offen, direkt und neugierig, aber nie einfach. Georg würde nicht so weit gehen, Frieda als menschlich schwierig zu bezeichnen. Dennoch musste man bei ihr auf der Hut sein, um sich nicht unangenehmen und zahlreichen Fragen ausgesetzt zu sehen. Natürlich verstand er ihre Zwischentöne. Aber um es auf den Punkt zu bringen, hätte sie ruhig direkt fragen können: Wie um alles in der Welt konnte er sich eine solch luxuriöse Villa in einer der begehrtesten und exklusivsten Lagen von Potsdam leisten?
„Das ist eine längere Geschichte. Aber du bist ja ein klein wenig mit der Geschichte meiner Familie vertraut … Aber deswegen bist du ja nicht hergekommen. Es war dein ausdrücklicher Wunsch, heute noch diese dringende Angelegenheit zu besprechen, die dir