Emmentaler Alpträume. Paul Lascaux

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Emmentaler Alpträume - Paul Lascaux

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noch lebte, und ein zweites Mal geschossen, um ganz sicherzugehen.« Ihre nüchterne Abgeklärtheit überraschte die Anwesenden.

      Heinrich aber dachte weiter: »Die Ausgangslage erinnert mich an einen Fall, in dem jemand versucht hat, einen Suizid vorzutäuschen.«

      »Wie glaubwürdig wäre das denn?«, fragte Melinda. »Nicole nimmt an einem Kurs irgendwo im Emmental teil und begeht eine Selbsttötung, ausgerechnet auf der Platzgeranlage hinter der Hornbach-Pinte?«

      »Und wo ist die Waffe?«, wollte Phoebe wissen. »Steht im Polizeibericht, dass man eine Pistole gefunden hat?«

      »Nein«, sagte Müller. »Und der Kriminaltechnische Dienst hätte sie nicht übersehen, denn sie müsste in der Nähe des Körpers liegen.«

      »Na also«, triumphierte Phoebe.

      »Nicht so schnell«, sagte der Detektiv. »Nehmen wir an, jemand wollte tatsächlich eine Selbsttötung vortäuschen. Er schießt also auf Nicole. Wahrscheinlich nicht am Fundort, sonst hätte sich Nicole bemerkbar machen können. Er sieht nun, dass sie nicht tot ist, kann aber kein zweites Mal schießen, denn bei einem Suizid mit einer derart schweren Erstwunde ist keiner in der Lage, einen zweiten, einen tödlichen Schuss zu setzen. Der Täter muss also darauf hoffen, dass sein Opfer verblutet oder an inneren Verletzungen stirbt. Deshalb lässt er Nicole hinter dem Restaurant liegen, um sie zu verstecken, und nicht, damit sie gefunden wird. Das war dann ein glücklicher Zufall.«

      »Bleibt immer noch das Problem der fehlenden Waffe«, sagte Phoebe. »Und dann hätte Nicole wenn auch vielleicht nicht ihr ganzes Gepäck, so doch immerhin Portemonnaie oder Ausweis oder Handy bei sich getragen. Aber nichts davon ist gefunden worden, soweit ich dich verstanden habe, sonst hätte man sie ja sofort identifiziert.«

      Heinrich fuhr fort: »Entweder war die Inszenierung unvollständig, der Täter wurde gestört und hat die Waffe wieder mitgenommen.«

      »Oder jemand anderes hat sie an sich genommen, warum auch immer«, unterbrach Melinda.

      »Und Nicole einfach liegen lassen?«, fragte Phoebe. »So abgebrüht ist wohl keiner.«

      »Jetzt müsste man wissen«, meldete sich Gwendolin, »wo das Verbrechen stattgefunden hat.«

      Phoebe hatte die Ansicht von Google Maps verkleinert. »Zur Hornbach-Pinte kommt man von drei verschiedenen Seiten: entweder aus dem hinteren Hornbach, von der Fritzenflue oder aus Wasen.«

      Heinrich zeigte auf die Hügel: »Oder von einer der Anhöhen. Wir brauchen genauere Karten. Geh auf swisstopo und bestelle sofort die Fünfundzwanzigtausender-Karten von der ganzen Umgebung.«

      Phoebe wurde schnell fündig. »Erledigt. Glück gehabt. Es gibt einen Zusammenzug für das Napfgebiet.«

      Freitag, 3.5.2019

      Markus Forrer und Heinrich Müller standen Punkt elf Uhr vor der verschlossenen Tür des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Bern an der Bühlstraße in der Länggasse. Der Kommissar zückte sein Handy, um den Eintrag in der Agenda zu überprüfen.

      »Elf Uhr, vorgestern abgemacht.« Er hob die tiefschwarzen Augenbrauen, die vom langen Haupthaar, das über die Stirn gefallen war, beinahe verdeckt wurden. »Dr. Augsburger ist doch die Zuverlässigkeit in Person.«

      »Wir haben ja sonst nichts zu tun«, sagte der Detektiv. »Hast du neue Erkenntnisse?«

      »Nein.«

      Heinrich erzählte seinem Polizeikollegen von der Diskussion in der Detektei.

      »Ich will euch von Anfang an mit dabeihaben«, sagte Forrer. »Zehn Augen sehen mehr als zwei, und ihr kennt Nicole wesentlich besser als ich. Was hat sie denn im Emmental gesucht?«

      Nun war es an Müller, seinem Nichtwissen Ausdruck zu verleihen. »Letzten Freitag hat sie uns erzählt, sie besuche einen Kurs. Welchen und wie lange, hat sie nicht gesagt. Wir müssen wohl warten, bis wir sie fragen können.«

      Sich rasch nähernde Schritte waren zu hören. Schritte von zwei Personen, zum einen von einem Paar Lederschuhe, die bei jedem Auftreten leicht quietschten, wenn das Wasser aus den Regenpfützen hervorquoll, das durch ein Loch in der Sohle gedrungen war; zum andern von einem Paar, das mit spitzen Absätzen über die Fliesen klackerte.

      »Tut mir leid, dass wir zu spät sind«, sagte Dr. Augsburger und trocknete mit einem Papiertaschentuch seine Glatze, bevor er ihnen die Hand entgegenstreckte. Laura de Medico klappte den blau gepunkteten Schirm zu und begrüßte die beiden ihrerseits, während der strahlende Blick aus den rehbraunen Augen, der zwischen Erwartung und Erfüllung oszillierte, vor allem auf Markus Forrer fiel.

      »Wir kommen gerade aus dem Spital«, erklärte der Rechtsmediziner, als er die Tür aufschloss. Mit dem Betätigen des Lichtschalters ertönte gleichzeitig Musik. Romantische Klanglandschaften mit Orchester- und Klavierbegleitung waberten durch den Seziersaal, dazwischen fiepte eine Mädchenkopfstimme ihre komplexen Geschichten.

      »Joanna Newsom«, erklärte Augsburger, »ein elfenhaftes Wesen mit langem Haar, eine Märchenprinzessin«, schwärmte er. Augsburger war bekannt für seinen exzentrischen Musikgeschmack. »Eigentlich Harfenspielerin. New Folk nennt sich das.«

      »Meinen Sie, die Toten lassen sich davon erschüttern?«, bemerkte Forrer mit schneidender Stimme.

      Augsburger konterte: »Wir haben eher daran gedacht, sie wieder aufzuwecken.«

      Dann gingen sie für einmal ins Büro.

      »Zur Abwechslung haben wir es erfreulicherweise mit einer Überlebenden zu tun«, setzte Augsburger das Gespräch fort, »und wir hoffen, dass es so bleibt.«

      Müller wollte wissen: »Ist Nicole ansprechbar?«

      »Nein, sie liegt immer noch im künstlichen Koma«, antwortete Laura. »Wird noch ein paar Tage dauern. Jedenfalls bis die Wundheilung im Körper ohne Komplikationen abgeschlossen ist.«

      »Dann können wir sie besuchen?«

      »Dann können Sie sie abholen«, schaltete sich Augsburger ein. »Sie liegt kurze Zeit im Aufwachraum, aber zur endgültigen Genesung wird sie wohl entlassen. In der gewohnten Umgebung erholt sie sich schneller, und man kann ein Trauma eher vermeiden. Ich muss Sie schon darauf hinweisen, dass sich Frau Himmel noch immer in einem zwar stabilen, aber kritischen Zustand befindet. Sie hat einen Lungenstreifschuss erlitten. Wenige Millimeter haben zu einem Lungendurchschuss gefehlt, und da sie erst etwa zwei Stunden nach der Verletzung ins Spital gebracht worden ist, hätte das wohl zu einem tödlichen Lungenkollaps geführt. Diese Gefahr ist gebannt, aber sie braucht nun Antibiotika, um eine Sepsis zu verhindern. Deswegen das künstliche Koma.«

      Forrer fragte: »Was haben Sie vor Ort gemacht?«

      Laura entgegnete: »Den Berichten der Polizei und des KTD ist wenig Aufschlussreiches zu entnehmen. Es gibt auch kein Projektil, das sie am Fundort entdeckt hätten. Deswegen haben wir Nicole untersucht. Es handelt sich um einen glatten Durchschuss, der wie gesagt die Lunge gestreift, aber sonst keinen groben Schaden angerichtet hat. Im Körper sind keine Projektilreste zu finden.«

      »Der KTD hätte eine Patrone oder eine Hülse bestimmt gefunden«, sagte der Kommissar. »Sie wussten ja, dass es um eine Schussverletzung geht und hatten wohl ein Metallsuchgerät dabei. Das lässt den Schluss zu, dass

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