Emmentaler Alpträume. Paul Lascaux
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Sonntag, 12.5.2019
Sie sitzt auf einer Aussichtsbank an einer Straßenkreuzung, jedenfalls ist sonst nichts zu sehen, keine Häuser, keine Menschen. In der Ferne ein kleiner Wald, aus dem eine Kurve herausragt. Dort fährt ein Postauto, aber das Billett ist sehr teuer, und das lange Warten kostet Kraft, auch wenn sich Nicole kaum bewegt.
Dann taucht eine Schulklasse auf, lauter lärmende Kinder. Nicole geht los, in der Kurve wird sie von den fröhlichen jungen Menschen eingeholt. Das Postauto, das kurze Zeit später am Horizont auftaucht und nun vor ihnen anhält, ist ein offener Lastwagen. Sie werden auf die Ladefläche verfrachtet. Nicole winkt jemandem zum Abschied. Ihrem Traummann?
Hinter der Kurve tut sich ein herrliches Panorama auf: ein enges Hochtal mit einem gemütlichen Dorf im Zentrum, steil abfallende Wildheuerwiesen und Weideflächen in der schmalen Ebene. Die Straße führt den Hang entlang, direkt darunter stehen etwa fünfzig überdimensionierte Kuhglocken, fast mannshoch, in allen Formen, meist golden leuchtend in der Sonne: ein Kuhfriedhof.
Dann fällt Nicole auf, dass man mit neunzigprozentiger Sicherheit zu Tode stürzt, wenn man mit einer dieser schweren Glocken um den Hals Ski fahren würde. Als ob sie das jemals getan hätte. Aber sie hat es zuerst entdeckt und sie will das Geheimnis so lange wie möglich für sich behalten. Wer weiß, wozu es noch nützlich sein würde.
Aus der Aue steigt bald ein betörender Duft auf: Karamell mit Vanille und etwas Morbides, Modriges ist mitgemeint. Es gibt das Leichte nicht ohne das Schwere, das Licht nicht ohne den Schatten, das Weite nicht ohne die Enge, das Leben nicht ohne den Tod.
Nicole spürt sie wieder, diese Enge. Sie kriecht auf allen vieren durch Schlamm und über brüchiges Erdreich, immer tiefer hinein, bis das letzte Licht von der massiven Dunkelheit geschluckt wird und es weder ein Vor- noch ein Rückwärts gibt. Es wird immer wärmer, gleichzeitig stickiger. Nicole schnappt nach Luft, beschleunigt die Atmung, ein kurzer Durchzug schiebt Sauerstoff nach, auf den Lippen macht sich pelzige Feuchtigkeit breit, auf der Zunge klebt der Geschmack eines undefinierbaren Metalls. Und dieser Duft nach Vanille … den kennt sie von stark parfümiertem Wein, der lange im Barrique gelegen hat.
Bevor sie ohnmächtig wird, zerrt jemand an ihren Schuhen und legt Nicole in nassem Gras ab. Dann schreien Kinder und es fällt ein Schuss.
Wahrscheinlich hat Nicole geschrien, denn Lucy ist vom Fußende des Bettes auf den Tisch gesprungen und hat dabei die Vase zu Boden gestoßen, deren Scherben auf dem Parkett verstreut liegen. Von den Blüten der Lilien stammt dieser betörende Geruch.
»Was für Alpträume«, denkt Nicole, als sie feststellt, dass es draußen nichts zu tun gibt.
Sie kuschelt sich noch einmal unter die Decke.
Mittwoch, 15.5.2019
»Ich kann mich jetzt daran erinnern, dass ich etwas gesucht habe«, erklärte Nicole Himmel.
Endlich waren sie erneut zu fünft im Gastraum des Schwarzen Katers. Nicole war sozusagen aus der Verbannung zurückgekehrt. Der Körper arbeitete wieder, die Restschmerzen der Wunde wurden mit Tabletten verjagt. Sie musste sich nur vor abrupten Bewegungen hüten. Die andern vier taten alles, um ihr die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern.
»Man hat dich bei der Hornbach-Pinte hinter dem Restaurant auf der Platzgeranlage gefunden«, sagte Heinrich.
»Sagt mir gar nichts.«
»Wasen im Emmental? Sumiswald? Hornbach?«
Nicole überlegte und verneinte.
»Warst du allein unterwegs?«, fragte Phoebe.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Nicole. »Es ist alles ausgelöscht. Ich versuche, irgendetwas zu finden. Die Leere ist groß genug. Aber da ist nichts. Ziemlich anstrengend, dieses Nichts.«
»Kein Stress«, dozierte Müller. »Der Arzt hat gesagt, die Erinnerung komme zurück, manchmal schritt-, manchmal stoßweise. Ob du jemals wieder an alles zurückdenken kannst, das hat er nicht garantiert. Nehmen wir, was wir haben. Du bist irgendwie aus irgendeinem Grund bis zum Hornbach gekommen.«
Melinda sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Willkommen im Ministerium für Wahrheitsfindung, Spekulationen und Verschwörungstheorien.«
Dann leckte sie den Paprika von den Pommes-Chips, bevor sie diese der bettelnden Lucy zu fressen gab.
Gwendolin hatte derweil die Fahrpläne abgerufen. »Die S 44 fährt tagsüber jeweils zehn Minuten vor der vollen Stunde ab Bern nach Sumiswald-Grünen, wo man direkten Anschluss an den Bus nach Wasen hat. Den ehemaligen Bahnhof erreicht man eine gute Stunde später. Endstation. In die Täler und auf die Hügel rundherum führt kein öffentlicher Verkehr.«
»Könnte man für eine ausgedehnte Frühjahrswanderung nutzen«, sagte Melinda.
»Keine Wanderung«, erklärte Nicole, »ganz sicher nicht.« Dann versank sie in verzweifeltes Brüten.
Heinrich sagte: »Im Sommerhalbjahr gibt’s am Wochenende eine Verbindung nach Langnau und mit dem Postauto auf die Lüderenalp. Dort könnte man übernachten. Und auf der andern Seite geht es direkt runter nach Wasen.«
Phoebe gab zu bedenken: »Wenn Nicole von jemandem hingefahren wurde, kann man sie natürlich irgendwo abgesetzt haben.«
Sie hatte die Fünfundzwanzigtausender-Karte »Napf« vom Bundesamt für Landestopografie swisstopo auf den Knien und fragte: »Warum Hornbach?«
Dann gab sie die Antwort gleich selbst: »Die Hauptstrasse führt hoch zur Fritzenfluh und weiter nach Huttwil. Bei der Abzweigung Hornbach finden wir die Hornbach-Pinte, ein Restaurant mit Gästezimmern – aber der oder die Täterin wird Nicole wohl nicht gerade neben dem Hotel abgelegt haben, wo sie übernachtet hätte. Weiter geht es ins Tal hinein, vorbei an einsamen Bauernhöfen bis Riedbad, über dem die Krähenbühlalp thront, der hinterste Hof, zu dem ein Sträßchen führt. Dann geht es, gemessen an den eng aneinanderliegenden Höhenlinien, nur noch steil bergauf entweder zum Farnli-Esel und über die Oberlushütte zum Höchänzi und weiter zum Napf. Alles nur in Wanderausrüstung begehbar und sicher nicht mit einem Rollkoffer. Direkt bei der Hornbach-Pinte zweigt ein Sträßchen zu einem Hof namens Kohlgrube, Richtung Wasen ein weiteres in den Wyttenbachgraben. Für den ganzen Rest ist Vierradantrieb angesagt, überall steiles Gelände und nicht asphaltierte Wege.«
»Das könnte den Schmutz an Nicoles Kleidung und unter ihren Fingernägeln erklären«, sagte der Detektiv.
Gwendolin beendete ihr Fingerspiel auf der Tastatur und sagte: »Riedbad. Den Gasthof nennt man ›Häxehüsli‹, weil die Wirtin alles mit Hexen dekoriert hat, draußen hängen sie an der Fassade, drinnen von der Decke.«
»Das Emmental ist bekannt als Land der Stündeler*«, sagte Müller. »Die dürften an Hexen wenig Freude haben.«
Gwendolin ergänzte: »Das Mobilfunknetz weist in der Gegend noch einige Lücken auf, vor allem in den kleinen Tälern und im hinteren Hornbach.«
Phoebe