Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden
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Karsten öffnete das Fenster, doch statt sauberer, salziger Meeresluft drang nur der Dieselgestank der zwei Lokomotiven des Zuges herein.
20
Westerland/Sylt. Nordseeklinik
Danach
Die Tür des Stationszimmers scheint geöffnet zu sein, auch wenn er das mehr erahnen als sehen kann. Unschlüssig späht Karsten den Gang entlang. Was würde passieren, wenn ihn der Pfleger jetzt noch einmal entdeckte?
Unvermittelt fällt die Tür zum Stationszimmer laut ins Schloss. Um ein Haar hätte er vor Schreck aufgeschrien. Einen Moment lauscht er dem rasend schnellen, rauschenden Pochen in seinen Ohren. Jetzt oder nie!
Er hält die Luft an, als ob allein sein Atmen ihn verraten könnte. Unbemerkt erreicht er das leere Foyer. Hinter dem großen Tresen steht eine Tür sperrangelweit offen. Er hört die murmelnden Stimmen der Schwestern: Gartenbewässerung und Wohnungssuche und wer mit wem und warum. Kein Wort über Patienten. Wahrscheinlich hat die Übergabe noch gar nicht richtig angefangen. Gut, denkt Karsten, sehr gut. Je weniger Leute von ihm wissen, von seiner Geschichte und dem Drogenscreening, desto weniger Leute werden sich ihm in den Weg stellen. Vorsichtig schlüpft er ins Treppenhaus und lässt lautlos die Tür hinter sich ins Schloss gleiten.
21
Westerland/Sylt. Nordhedig
Davor
»Wir haben noch Zeit, soll ich euch mal die Klinik zeigen, wo ich damals war?«, schlug Lorenz vor.
»Wenn die am Strand ist«, meinte Miriam.
»Und ob.« Lorenz’ Augen leuchteten, und gegen Strand sprach nun wirklich gar nichts, ganz im Gegenteil. Die Sonne knallte vom Himmel und brannte auf der Haut, viel intensiver als in Bremen, und der Himmel war von einem fast unnatürlichen Blau, in das man am liebsten eintauchen wollte. Noch dazu war es heiß und stickig in Karstens altem Audi, in dem die Klimaanlage den Außentemperaturen nicht Paroli bieten konnte.
Obwohl Karsten wusste, dass ein Großteil von Westerland aus hässlichen Wohnsilos aus früheren Jahrzehnten bestand, hatte er nach Lorenz’ Erzählungen eine romantische Vorstellung von der Klinik gehabt. Er stellte sich diese glücklich machende Asthmaklinik wie einen alten Bauernhof vor, umgeben von einigen in den Dünen verstreuten reetgedeckten Häuschen und selbstverständlich direkt am Strand gelegen. Doch dann sagte Lorenz plötzlich vor einem mehrgeschossigen rostroten Zweckbau in einer stinknormalen Nebenstraße mitten in Westerland, Karsten solle anhalten, sie wären da. Lorenz hatte noch immer sein seliges Grinsen im Gesicht. Er lief vorneweg, konnte es kaum erwarten, ein asphaltierter Weg, volle Fahrradständer, Dünen, dann Treppen, und dann fegte der Anblick alle Bedenken und schlechten Gefühle weg.
Die gleißende, von Meer und Strand reflektierte Nachmittagssonne ließ sie die Augen zusammenkneifen und die Hände schützend an die Stirn legen. Hier roch es nun auch tatsächlich intensiv nach Meer, sauber, feucht und salzig. Ehrfürchtig blieben sie stehen.
»Was wollt ihr denn nun? Rein oder raus?«, hörte Karsten eine Stimme neben ihm.
»Ich mach das schon«, beeilte sich Lorenz zu sagen und gab der schlecht gelaunten Frau, die sich aus der Dunkelheit eines hölzernen Kabuffs gemeldet hatte, einen Zehneuroschein.
»Das reicht nicht«, sagte sie.
»Oha«, lachte Lorenz und reichte ihr noch einen Zehner.
»Eintritt für den Strand?«, fragte Miriam ungläubig.
»Kurtaxe«, erklärte er. »Das nehmen die hier ganz genau.«
Über die wenigen Stufen einer Holztreppe stiegen sie hinab zum Strand, stapften barfuß durch den warmen weichen Sand und ließen sich neben den Resten einer Strandburg nieder, die von der nahenden Abendflut bald vollends weggespült werden würde. Eine Gruppe Kinder tobte um zwei Volleyballnetze herum, die am Strand aufgestellt waren. Zwei Frauen mit sonnengegerbten Gesichtern standen am Rand. Mit stoischem Blick ließen sie die Kinder gewähren.
»Na, willst du nicht deinen Kindergärtnerinnen hallo sagen?«, stichelte Karsten in Lorenz’ Richtung. Er ignorierte es.
»Wer als Erstes …«, rief Franziska, aber Miriam und Lorenz waren schon losgerannt wie aufgekratzte Kinder. Karsten hatte es gar nicht bemerkt, dass sich die anderen in Windeseile umgezogen hatten, während er noch immer mit der Badehose in der Hand das Meer anstaunte, überwältigt. So lange war er nicht mehr am Meer gewesen.
Mit beeindruckender Wucht brandeten die Wellen an den Strand, brachen und zerliefen dann schaumig und ohne Hast über den glattgewalzten Sand. Woher kam bei so ruhigem Wetter dieser Wellengang? Vielleicht war das hier immer so. War Sylt nicht genau dafür bekannt und beliebt? Schwere See, dachte Karsten plötzlich, schwere See, mein Herz. Dieses alte Lied von Element of Crime. Heilte das Meerwasser nicht Wunden? Konnte die Nordsee auch in einem drin alles rund und weich und glatt spülen wie die kleinen Scherben und Holzstückchen, die man an Stränden wie diesem finden konnte?
Franziska und Miriam quietschten, Lorenz und Karsten brüllten, das Wasser, kalt für diesen endlosen heißen Sommer, kälter als erwartet, prickelte wunderbar auf der Haut. Die dunklen Gedanken verschwanden, als wären sie nie da gewesen. Sie blieben so lange im Wasser, bis sie Gänsehaut hatten, tauchten immer wieder durch die Wellen und wurden von ihnen zurück an den Strand getrieben. Sie ließen sich lang im Sand ausgestreckt von der Sonne trocknen und wieder aufwärmen. Gegen halb sieben brachen sie auf, um das Ferienhaus von Matzes Familie zu suchen. Sie taten es ein wenig widerwillig.
22
Westerland/Sylt. Nordseeklinik
Danach
Die Mauern der Klinik haben die Hitze der letzten Wochen gespeichert. Jenseits der Automatiktüren ist die Luft dagegen überraschend kühl und feucht. Es rauschen der Wind und das Meer, es muss ganz nah sein, vor dem tiefblauen Abendhimmel ein paar Möwen, kreischend. Es dämmert.
Karstens Augen scannen die geparkten Autos. Er braucht keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass sein Auto nicht im Innenhof der Klinik steht. Was nun?
Karsten muss sich zwingen, nicht loszurennen. Bloß nicht auffallen, ganz langsam gehen, egal wohin, Hauptsache weg. Haben sie auf Station schon bemerkt, dass er abgehauen ist? Suchen sie bereits nach ihm?
Er erreicht einen schmalen Mauerdurchlass, dahinter ein gläserner Unterstand. Ein übervoller Aschenbecher qualmt bedrohlich vor sich hin. Zwei Männer um die 70, unrasiert, schmuddelige Bademäntel, ausgetretene Hausschuhe. Sie verstummen mitten im Satz und starren ihn an. Er nickt. Einfach weitergehen.
Ein Nebengebäude, heruntergekommen, Fahrräder in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Ein dickes Mädchen in weißer Schwesternkleidung rennt aus der offen stehenden Tür und in Karsten hinein. Eine Entschuldigung murmelnd, hetzt sie weiter.
Als Karsten die Straße erreicht und auf dem breiten Radweg steht, hat er das Gefühl, bereits einen Marathonlauf hinter sich zu haben. Ein Polizeiwagen nähert sich von links. Karsten wendet sich nach rechts und biegt nach wenigen Metern erneut rechts ab auf einen asphaltierten Fahrweg. Hinter ihm rauscht der Polizeiwagen ohne zu bremsen vorbei.
In dem schmucklosen Neubau auf der rechten Seite des