Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden

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Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden

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Julia. Er drückte sie weg und schaltete das Handy aus. Carina sah ihn etwas schräg an.

      »Und du?«, fragte sie nach einer Weile. »Bist du immer noch mit Julia zusammen?«

      Lag es an der Frage an sich, am Tonfall, sanft, zart, oder an der für Karsten überraschenden Tatsache, dass sie überhaupt wusste, mit wem er zusammen war? An diesen Augenblick konnte sich Karsten noch Jahre später genau erinnern, denn in diesem Augenblick passierte etwas, das sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

      »Hmmm«, machte er bestätigend.

      »Macht ja nichts«, sagte sie und lachte neckend. Dann legte sie ihren Kopf schief und den Arm um seinen Hals, zog ihn zu sich und küsste ihn. Er wehrte sich nicht. Keine Spur.

      Sie schliefen miteinander, während der fast volle Mond durch die Baumkronen blinzelte und die ungebräunten Stellen an Carinas Haut, wo sonst der Bikini saß, weiß aufleuchten ließ. Mit Carina zu schlafen, fühlte sich für Karsten an wie für einen Polarforscher der erste Sonnenaufgang am Ende der monatelangen Polarnacht.

      Nach dieser Nacht kam sie regelmäßig zu ihm nach Hause. Julia hatte ohnehin unter der Woche keine Zeit, sie lernte unglaublich viel, dazu Klavier, Volleyball, Ballett, Treffen der Evangelischen Jugend. Und so kam es, dass Karsten unter der Woche eine leidenschaftliche Affäre mit Carina hatte und die Wochenenden bei Julia und ihrer Familie verbrachte und sich auch darauf freute. Es war eine kleine spießige Idylle, das Reihenhaus in Borgfeld, das Kaffee-und-Kuchen-Ritual mit ihren Eltern, Cluedo mit ihrem kleinen Bruder, die Besuche bei der Oma im Nachbarhaus, Julias Zimmer unterm Dach, in dem alles niedlich und putzig, artig und fein, akkurat und sauber war, genauso wie in den schnulzigen Teenie-Serien, die in Dauerschleife auf ihrem altersschwachen VHS-Rekorder liefen. Alles zusammen gab ihm, dem wohlstandsverwahrlosten Waisen, jene Familie, die er so nie gehabt hatte, und genau das machte es Karsten unmöglich, mit Julia Schluss zu machen. Es fühlte sich an, als müsste er mit der ganzen Familie Schluss machen, der einzigen Familie, die er noch hatte, nachdem seine eigene implodiert war.

      Zunächst schien das alles für Carina in Ordnung zu gehen. Doch eines Tages, es war inzwischen Dezember geworden und nichts hatte sich geändert, das zweite Adventswochenende stand vor der Tür, Karsten lag mit Carina vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer seines Elternhauses in der Benquestraße, es roch nach Holzfeuer, Glühwein und Sex, und alles war schön, vielleicht viel zu schön, fing sie unvermittelt an zu weinen.

      »Ich halte das nicht mehr aus«, flüsterte sie. »Die Wochenenden sind so scheiße!«

      Karsten spürte einen Kloß im Hals. Das schlechte Gewissen, das sowieso immer rumorte, besonders an den Freitagen und Sonntagen, überrollte ihn, und er sagte zu Carina, dass er mit ihr zusammen sein wollte, nur mit ihr, dass er mit Julia Schluss machen würde, dass es ihm aber unendlich schwerfiele, weil er Julia nicht verletzen wollte, dass sie, Carina, noch etwas Geduld haben müsste. Sie nickte, sagte aber nichts und lächelte auch nicht.

      In der Folgezeit stritten Carina und Karsten viel. Sie weinte fast jeden Tag, an dem sie sich sahen. Sie konnte nicht verstehen, dass er es einfach nicht schaffte, mit Julia Schluss zu machen, Karsten verstand es ja selbst nicht, er zweifelte an sich und seinem Verstand, verzagte an seinen Gefühlen und seiner Unfähigkeit. Die gemeinsamen Wochenenden wurden seltener.

      Es war nicht die beste Idee, sich in dieser Lage Matze anzuvertrauen, aber es war die Zeit, in der Karsten und Lorenz zu seinem Freundeskreis gehörten. Matze begriff herzlich wenig von Karstens seelischen Zwickmühlen, pfiff nur anerkennend durch die Zähne und sagte, er solle den Status quo genießen und es sich selbst nicht so schwer machen, heiraten wolle er ja wohl beide nicht, Karsten solle seinen Spaß haben. Die Erinnerung an Matzes Worte ließ Karsten noch heute die Faust in der Tasche zusammenballen. Und Matzes Verrat nur kurze Zeit später erzeugte einen abgrundtiefen Hass in Karsten, nicht auf Carina, er konnte sie nur zu gut verstehen, aber auch nicht nur auf Matze, sondern am meisten auf sich selbst.

      17

      Bremen. Stadtwerder

      Davor

      Karsten schwieg.

      »Du solltest diese alte Geschichte endlich abhaken«, sagte Franziska nach einer Weile.

      »Ja, verdammt«, rief Karsten ärgerlich. »Längst geschehen! Kannst du jetzt bitte, bitte damit aufhören? Sonst bleib ich doch noch hier, und ihr könnt euch ohne mich mit diesem Idioten und dem anderen Schleimscheißer vergnügen!«

      »Oh Mann«, sagte Franziska und klang jetzt auch genervt. »Dass Matze ein Idiot ist, steht außer Frage. Aber das ist doch gar nicht der Punkt!«

      »Was ist denn dann der Punkt?«, zischte Karsten. »Um was, verdammt noch mal, geht es überhaupt?«

      »Es geht darum, dass du dich hinter der Geschichte von damals verschanzt. Du trägst sie wie einen Schutzschild vor dir her. ›Seht her, ich bin ja so verletzt worden. Ihr müsst mich mit Samthandschuhen anfassen, weil mein Herz gebrochen ist.‹ Hör auf damit! Hör auf mit dem verdammten Selbstmitleid! Zieh deine Lehren daraus, und weiter geht’s!«

      Miriam sah sich um. Ihr war die Situation jetzt unangenehm. Das sollten Karsten und Franziska besser unter sich ausmachen. Sie stand auf, ging die wenigen Schritte zur Gartentür und starrte in die Dunkelheit. Die Nacht hing schwarz zwischen den Hecken und Büschen, in den Schrebergärten und auf den Wegen.

      »Komm schon«, hörte sie Franziska hinter sich mit weicher Stimme sagen, »wie soll ich mich denn fühlen, wenn du noch in der Vergangenheit festhängst? Ich bin doch jetzt für dich da. Und ich will, dass es dir gut geht! Tut mir leid, dass wir gelacht haben. Aber wir hatten schon zwei Gin Tonic, und du warst gerade so melodramatisch wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film!«

      »Was hat Miriam dazu gesagt?«

      Franziska machte ein unbestimmtes Geräusch. Miriam drehte sich um. Das konnte sie ja dann doch am besten selbst sagen.

      »Sieh es mal so«, begann sie. Karsten und Franziska hatten sofort aufgesehen, etwas überrascht, als hätten sie ihre Anwesenheit in der Zwischenzeit völlig vergessen. »Du hattest doch sicher viele schöne Momente mit Carina, oder?«

      Karsten nickte stumm.

      »Wozu dann traurig oder wütend sein? Denk lieber an die Zeit, die ihr hattet, als an die, die ihr nicht hattet. Wäre nicht Matze gekommen, dann hätte sie vielleicht mit jemand anderem was angefangen, früher oder später, aber ganz sicher irgendwann.«

      »Ich weiß, dass ich selber schuld bin! Aber das macht es nicht besser, sondern noch schlimmer!«

      »Verzeih dir selbst, Karsten!«, sagte Miriam eindringlich. »Jeder macht mal Fehler. Du hattest damals Gründe. Heute würdest du dich sicher anders verhalten. Wenn du dir selbst verziehen hast, wird dir Matze scheißegal werden. Und du wirst deinen Frieden mit der ganzen Geschichte machen können.«

      Franziska nickte bestätigend und strich Karsten über den Rücken.

      »Themawechsel«, sagte Karsten bestimmt. »Ihr hört euch an wie bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten.« Hektisch wischte er sich über die Augen.

      In der abendlichen Stille war jetzt ein sich näherndes schleifendes Geräusch zu hören, und plötzlich kam Lorenz durch die Gartentür, einen Hartschalenkoffer hinter sich her ziehend.

      Lorenz, mein Lorenz, dachte Miriam, und ihr Herz machte einen Sprung. Wie war sie dankbar dafür, dass Lorenz so

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