Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden
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Karsten und seine Freundin Franziska verbrachten hier die heißen Augustwochen. Lorenz und Miriam mussten sich nicht lange bitten lassen und gesellten sich dazu.
Karsten wusste nicht, wo sein Vater den Sommer verbrachte, er tauchte jedenfalls nicht auf, und das war Karsten auch herzlich egal. Sein Vater ertrug es nicht, sich zu Hause in Bremen aufzuhalten, insbesondere nicht in dem großen alten Haus in Schwachhausen, in dem sich seine Frau das Leben genommen hatte, was er als Verrat empfand und als eine besonders niederträchtige Weise, ihn zu verlassen.
Bereits kurz nach ihrem Selbstmord, der in der besseren Bremer Gesellschaft für viel Klatsch und Tratsch gesorgt hatte, zog er sich von seiner Eigenschaft als Partner einer großen Kanzlei für Wirtschaftsrecht zurück.
Mit Vitamin B und dank des Todes eines Parteikollegen ergatterte er ein Bundestagsmandat und einen unwichtigen Posten in einem unwichtigen Ausschuss und verschwand aus Karstens Leben kaum weniger gründlich als kurz zuvor seine Mutter.
Wären nicht die monatlichen Überweisungen gewesen, die Karsten ein komfortables Leben ermöglichten, hätte er fast vergessen können, dass sein Vater noch lebte.
Sie fühlten sich vom Schicksal zusammengeführt, der Halb- oder eigentlich Quasi-Vollwaise Karsten, der von seinen Eltern versetzte Lorenz mit seiner Freundin Miriam, und Franziska, die den Sommer immer noch lieber in der stickigen Unibibliothek verbracht hätte, als zu ihrer Familie in den Harz zu fahren.
So ließen sie sich also zu viert durch den Sommer treiben, Franziska und Karsten, Miriam und Lorenz. Sie schliefen, bis die Hitze sie weckte. Sie hingen im Garten herum und tranken sich bereits nachmittags einen an. Sie gingen schwimmen im Werdersee, sie dösten zwischen den Bäumen, krochen dem Schatten nach, lauerten träge auf den Abend, machten die schwüle Sommernacht durch.
Plötzlich wurde es eine Spur kühler und dunkler. Als Karsten blinzelte, sah er, dass sich jemand zwischen ihn und die Sonne gestellt hatte. Die breite Silhouette vor dem blassen Himmel hatte die Arme in die Seiten gestützt und strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus.
»Kasi! Renzo!«, sagte eine näselnde Männerstimme betont beiläufig. »Hätte ich mir ja denken können, dass ihr immer noch hier abhängt.«
Trotz der Hitze bekam Karsten eine Gänsehaut. Etwas in ihm begann sich zu verkrampfen. Es war Matze.
»Schau an, der Parvenü«, bemerkte Lorenz ebenso beiläufig.
»Leck mich, Renzo.«
Matthias Opdervelde war mit seinen Eltern zu Beginn der Oberstufe nach Bremen gezogen. Matzes Vater hatte sich vom einfachen Kaufmann zu einem der größten Konservenfabrikanten Deutschlands hochgearbeitet.
Über Lorenz’ Vater, spezialisiert auf die Vermittlung von Luxusimmobilien, hatte er sich und seiner Familie ein schlossähnliches Anwesen auf einem hektargroßen Parkgrundstück in Oberneuland gekauft. Da allen Opderveldes jegliches Gefühl für Understatement völlig fehlte, gingen sie bald ihrer Umgebung gewaltig auf die Nerven. In der Nachbarschaft, in den Klubs und Vereinen protzten sie so sehr herum, dass sich alle peinlich berührt abwendeten und niemand mit ihnen gesehen werden wollte. Auch Matzes Bemühungen um Anschluss und Freundschaften scheiterten über kurz oder lang an seinem übersteigerten Geltungsbedürfnis.
»Was machst du denn hier?«, fragte Karsten. »Ich dachte, du wärst jetzt in München.«
»Bin ich ja auch«, antwortete Matze. »Bin gestern mit einem Kumpel hochgefahren. Bin ich froh, aus dem Süden weg zu sein. Ihr glaubt nicht, wie heiß es dort war in den letzten Wochen.«
»Och, wir können auch nicht klagen«, warf Lorenz ein.
»Wir haben hier seit Wochen über 30 Grad«, fügte Karsten hinzu.
»Jaja«, fiel Matze Karsten ins Wort, »wir müssen jetzt nicht übers Wetter reden. Aber das hier …« Er breitete die Arme aus und ließ sie über Strand, Fluss und Menschen gleiten, »ist ein Scheiß gegen München. In München fühlt man sich wie im Dampfbad, jeden Tag, rund um die Uhr. Hier ist es richtig kühl dagegen.«
»Auch diesmal können wir nicht gegen dich anstinken, Matze«, sagte Karsten betont gelangweilt.
Matze winkte ab. »Ich sag ja nur, ihr könnt froh sein, nicht die Hitze im Süden erleben zu müssen. Das ist was ganz anderes, eine andere Liga, eine andere Klimazone.«
»Wir haben verstanden, Matze«, sagte Karsten. »Herzlich willkommen im Kühlschrank Deutschlands. Hoffentlich holst du dir keinen Schnupfen.«
Matze drehte sich suchend um die eigene Achse, winkte und pfiff mehrmals. Kurz dachte Karsten, er wolle einen Hund herbeirufen, doch dann tauchte ein Typ mit schwarzen zurück gegelten Haaren neben Matze auf. Er war nicht allein. Miriam und Franziska waren bei ihm. Sie trugen bunte, blumig gemusterte Sommerkleider, oben eng und figurbetont, unten weit und luftig. Karsten hatte die Kleider noch nie an den beiden gesehen.
Miriam ging direkt zu Lorenz und küsste ihn auf den Mund. Franziska setzte sich dicht neben Karsten, legte ihre Hand auf seine Brust und sagte: »Hallo, Schatz.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Matze meckernd zu lachen.
»Na so was!«, rief er laut. »Ich war ja echt gespannt auf die Freunde der beiden, aber dass das ausgerechnet ihr zwei Dünnbrettbohrer seid!«
Er klatschte sich grölend mit dem anderen ab, der etwas verdutzt daneben stand.
»Darf ich vorstellen, das ist Ricky, Kollege von der Uni in München. Ricky, sag hallo zu Kasi und Renzo, meinen alten Schulfreunden.«
»Hi«, sagte Ricky. »Ich bin Enrico, aber für dieses Genie hier ist der Name anscheinend zu anspruchsvoll.«
»Jaja«, winkte Matze ab. »Sei nicht so eine verdammte Pussy.«
»Stellt euch vor«, schaltete sich jetzt Miriam ein, »Matze und Enrico haben uns nach Sylt eingeladen, ist das nicht cool?«
»Und als wir gesagt haben«, warf Franziska ein, »aber nur mit unseren Männern, da haben sie sofort Ja gesagt, obwohl sie euch gar nicht kannten.«
»Aber ihr kennt euch ja doch!«, stellte Miriam fest. »Das ist ja umso besser.«
»Ja«, brummte Karsten, »ganz super.«
»Wenn ich mal aufklären darf«, sagte Matze. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muss nach Sylt, nach unserem Haus dort sehen. Es ist eingebrochen worden, und jemand von der Familie muss dem Hausverwalter auf die Finger schauen, ihr versteht. Und als wir diese beiden bezaubernden Damen in der Stadt getroffen haben, haben wir sie kurz entschlossen gefragt, ob sie uns begleiten möchten. Wie ihr seht, sind eure Mädels begeistert von der Idee. Wenn ihr auch mitwollt, könnt ihr das gerne tun, aber ihr müsstet separat fahren, sechs Leute krieg ich nicht ins Auto. So ein Cayenne ist zwar geräumig, aber alles hat Grenzen.« Er meckerte erneut.
»Danke, kein Interesse«, brummte Karsten.
»Na dann, zu fünft passt’s!«
Miriam und Franziska wechselten Blicke.
»Also entweder kommen wir alle mit oder keiner.«