Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden
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Читать онлайн книгу Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden страница 3
Waldmann nickt. »Wie geht’s Ihnen?«
»Kopfweh. Durst.«
Waldmann nimmt eine Flasche vom Nachttisch und gießt Wasser in einen daneben stehenden Becher, auf den er einen Deckel mit schnabelförmiger Öffnung steckt.
»Nicht aufsetzen«, mahnt er. »Ich helfe Ihnen beim Trinken.«
Waldmann hält ihm den Becher an die Lippen. Er hebt vorsichtig den Kopf, nur ein Stückchen. Das Wasser in seinem Mund fühlt sich an, als müsse es dort eine Feuersbrunst löschen.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
»Krankenhaus?«
»Gut! Sehr richtig!«, lobt Waldmann. »Und zwar auf der Intensivstation. Aber keine Angst, bislang sieht alles gut aus. Wir haben uns allerdings etwas Sorgen um Sie gemacht.« Wieder Pause und erwartungsvoller Blick. Waldmann scheint darauf zu warten, dass er sich an irgendetwas erinnert, etwas erklären kann. Doch er kann nicht. Er hat keine Ahnung, nur einen alles verschleiernden Nebel im Kopf und diese Angst, die immer beklemmender wird.
»Wissen Sie, in welcher Stadt wir uns befinden?«
»Hamburg?«
»Warum Hamburg? Kommen Sie aus Hamburg?«
Er sieht den Arzt unsicher an. »Weiß nicht.«
»In Hamburg sind wir nicht. Sonst eine Idee?«
»Nein.«
»Vielleicht ungefähr die Gegend? Harz? Bodensee? Sauerland?«
Es summt kurz in seinem Kopf, ein Vibrieren, dann Pfeifen im linken Ohr. Schwindel. Er schließt die Augen. Blitzen. Licht, Sonne, ein Strand, Wasser, Wellen.
»Sylt?«, haucht er.
»Sehr gut«, lobt Waldmann erneut. »Und können Sie mir auch sagen, wie Sie auf Sylt ins Krankenhaus geraten sind?«
Wie in einem dunklen Keller, in dem die einzige Glühbirne durchgebrannt ist, tastet er sich an den spärlichen Bildern entlang, die der Schleier in seinem Kopf gerade freigibt.
Haus in den Dünen. Gesichter, die ihm vage bekannt vorkommen. Reden. Lachen. Geschrei. Aufregung. Wut. Etwas ist passiert, ist aus dem Ruder gelaufen. Er versucht, weiter in seine Erinnerung vorzudringen, doch je mehr er sich anstrengt, desto mehr verschwimmt alles in undurchsichtigem Nebel.
»Kommt die Erinnerung zurück?«, hört er den Arzt von weit entfernt fragen. »Wissen Sie wieder, wie Sie heißen?«
Er schüttelt den Kopf, was dieser mit erneutem Dröhnen quittiert. Ohnehin fühlt sich sein Kopf an, als wäre er viel zu weit weg, fast so, als wäre er durch einen Giraffenhals mit dem Rest des Körpers verbunden.
»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«, fragt der Arzt.
Schweigen.
»Mit wem sind Sie auf Sylt?«
Gesichter. Bekannte und weniger bekannte. Freundliche. Sympathische. Verzerrte. Abneigung. Ekel. Matze. Unwillkürlich zuckt er zusammen. Schmerz schießt durch seinen Kopf und von dort in den ganzen Körper. Er beginnt zu zittern.
»Freunde«, krächzt er. »Mit ein paar Freunden.«
Waldmann sieht ihn ernst an. »Was ist Ihnen eben eingefallen?«
»Nichts, nur …«
»Ja?«
»Nichts.«
Waldmann nickt langsam.
»Wo wohnen Sie auf Sylt?«
»Ein Haus in den Dünen, mit Reetdach, in der Nähe vom Strand.«
»Hmmm«, macht der Arzt und lächelt milde. »Ich fürchte, das bringt uns nicht wirklich weiter.«
»Hat niemand nach mir gefragt?«
Waldmann sieht ihn einige lange Sekunden stumm an.
»Okay«, sagt er schließlich. Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben das Bett. »Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was wir über die Umstände wissen, die Sie hierher gebracht haben. Unterbrechen Sie mich, wenn das irgendwelche Erinnerungen bei Ihnen wachruft.«
4
»Heute Nacht gegen halb zwei rief eine Frau bei der Rettungsleitstelle an und meldete, dass sich an der Bushaltestelle Schauinsland in Wenningstedt zwei bewusstlose Personen befänden. Bevor die Rettungsstelle nachfragen konnte, legte sie auf, ohne ihren Namen zu sagen. Die Rettungsleitstelle hat versucht zurückzurufen, doch wie sich herausstellte, kam der Anruf von einer Telefonzelle ein paar 100 Meter von der Bushaltestelle entfernt. Die Sanitäter des Rettungswagens fanden Sie und eine weitere Person wie angekündigt bewusstlos im Wartehäuschen liegend vor.«
»Warum Wenningstedt?«
Der Arzt lacht. »Warum nicht? Ist das das Einzige, das Ihnen zu denken gibt?«
»Und warum Bushaltestelle?«
»Vielleicht wollten Sie nach Hause?«, schlägt Waldmann vor.
Schweigen. Ratlosigkeit.
»Setzen Sie sich nicht unter Druck. Meistens kommt die Erinnerung mit der Zeit zurück.« Der Arzt schenkt ihm ein Lächeln, das aufmunternd wirken soll.
»Es war jedenfalls großes Glück, dass Sie so schnell gefunden worden sind. Durch das heftige Gewitter hat es sich stark abgekühlt, und Sie waren nur notdürftig bekleidet.«
»Okay«, sagt er gedehnt. Sein Gehirn ringt um Bilder, Erinnerungen, irgendetwas.
»Die Sanis haben Sie dann hierher in die Nordseeklinik gebracht. In Ihrem Blut fand sich eine Alkoholkonzentration von zweieinhalb Promille. Ihre Zunge wies frische Bissspuren auf, wie sie typischerweise bei Krampfanfällen auftreten. Daher haben wir eine Computertomografie ihres Kopfes durchgeführt, die aber keine auffälligen Befunde erbracht hat. Sie waren einige Stunden in einer tiefen Bewusstlosigkeit.«
»Krampfanfälle? Wie ein epileptischer Anfall?«
»So in der Art. Aber im Rahmen einer schweren Alkoholintoxikation kann man noch nicht von Epilepsie sprechen. Oder ist bei Ihnen ein Epilepsieleiden bekannt?«
Aus dem Nebel in seinem Kopf taucht seine Mutter auf. Sie sieht frisch und erholt und um Jahrzehnte jünger aus als das abstoßende Bild, das er von ihr in seiner Erinnerung behalten hat.
»Als kleines Kind … meine Mutter … sie hat gesagt, dass ich mal einen … Anfall gehabt hätte. Ich sollte das jedem Arzt sagen. Das war ihr ganz wichtig.«
»Na, dann passt ja alles zusammen«, sagt der Arzt nickend. »Vielleicht haben Sie tatsächlich eine niedrigere Krampfschwelle als andere. Und irgendetwas hat dann gestern Abend die Sicherungen durchbrennen lassen.«
»Aber so etwas ist noch nie