Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden
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Was bedeutete: Karsten würde fahren müssen. Miriam hatte kein Auto, Franziska besaß einen 20 Jahre alten Polo, der schon bei Tempo 80 auseinanderzubrechen drohte, und Lorenz fuhr einen klassischen Mini Cooper, der nun wirklich zu klein war für vier Erwachsene mit Gepäck. Die einzige sinnvolle Möglichkeit war der Audi A6, die ehemalige Familienkutsche der Straußbergers, mit der Karsten gelegentlich durch die Gegend fuhr.
»Wir können auch einfach hier bleiben«, sagte Franziska leise zu Karsten, als Matze und Enrico bereits gegangen waren. »Wenn dir das mit Matze immer noch so viel ausmacht …«
»Nein, wir fahren!«, sagte Karsten bestimmt. »Soll er doch sehen, dass wir bessere Freunde sind, als er jemals hatte und haben wird. Aber wenn er es wagt, sich an eine von euch ranzuschmeißen, dann wird er bluten, dafür sorge ich!«
»Huch, wie männlich!«, sagte Franziska und lachte.
»Was ist denn los?«, fragte Miriam stirnrunzelnd, als sie Karstens Gesichtsausdruck bemerkte. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
9
Westerland/Sylt. Nordseeklinik
Danach
Mit einem Ruck fährt er hoch. Er ist schweißgebadet. Sein Herz rast. Aber das Dröhnen in seinem Kopf ist weg, nur noch eine blasse Ahnung. Immerhin.
Luna, wo ist sie hin? Hektisch springt er auf und sackt beinahe vor dem Bett zusammen. Keuchend lehnt er an der Wand, spürt, wie das Pulsieren in seinen Ohren allmählich nachlässt, die Sternchen vor den Augen verschwinden. Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang, um die Ecke, zum Badezimmer.
Er erschrickt furchtbar, als wenige Sekunden nach der Beleuchtung lautstark die Lüftung anspringt.
Scheiße, warum bist du so nervös, denkt er. Du bist doch sonst nicht so schreckhaft. Als hättest du einen Geist gesehen, hatte Franziska gesagt. So fühlt er sich nun auch.
Luna. Sie wollte nicht mehr erzählen, hatte nur noch herumgedruckst. Er musste einfach eingeschlafen sein, noch während sie bei ihm saß. Warum? Warum ist er nur so dermaßen erschöpft?
Am Tisch setzt er die Mineralwasserflasche an die Lippen und trinkt sie aus, ohne abzusetzen. Einen Moment lang befürchtet er, alles wieder erbrechen zu müssen. Doch dann entfährt ihm ein fulminantes Rülpsen, und danach geht es ihm besser.
Sein Blick schweift durchs Zimmer. Auf dem Nachttisch liegt etwas. Er erstarrt. Ein Zettel.
Mit klopfendem Herzen beeilt er sich, seinen geschwächten Körper um das Fußende des Bettes herum zum Nachttisch zu manövrieren, stolpert über etwas, taumelt, flucht und fällt aufs Bett. Er erkennt seine Reisetasche, halb unters Bett gerutscht, doch dafür hat er jetzt keinen Blick. Er greift nach dem Zettel, ein kariertes Blatt Papier, DIN A4, aus einem Collegeblock gerissen, einmal in der Mitte gefaltet. Darauf mit blauem Kugelschreiber eine Mädchenschrift, unverkennbar, rund und verspielt, die i-Tüpfelchen sind kleine Kreise. Atemlos beginnt er zu lesen.
Lieber Karsten,
erhol dich noch gut und mach dir bitte keinen Kopf. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber wir können die Dinge nun mal nicht rückgängig machen. Aber wir haben alles in Ordnung gebracht, auch wenn das nicht wirklich möglich ist, aber eben so gut es ging. Also mach dir keine Sorgen.
Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben! Aber man trifft sich ja immer zweimal!? Egal, was kommt: Ich bin auf deiner Seite!
Alles Liebe,
Luna
Karsten lässt das Papier sinken und starrt zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch. Ein Stück entfernt ist ein Kiefernhain zu sehen. Karsten betrachtet die sich im leichten Wind bewegenden Wipfel. Von den gleichförmigen Bewegungen geht eine hypnotisierende Wirkung aus.
Auf meiner Seite? Egal, was kommt? Keine Sorgen machen? Alles in Ordnung gebracht? Und dann auch noch: auch wenn das nicht wirklich möglich ist? Was soll das bedeuten? Was will sie damit sagen? Und was alles sagt sie nicht?
Karsten liest den Brief ein zweites Mal. Erst jetzt fällt ihm der Pfeil ganz unten auf. Er wendet das Blatt. Eine weitere Nachricht, mit einem anderen Kugelschreiber geschrieben, offenbar in Eile, unverkennbar die gleiche Handschrift, aber nicht mehr Mädchenschönschrift, sondern schlampig hingekritzelt.
Wenn er sich bislang von einer Mauer aus Angst umgeben gefühlt hat, rollt nun eine Panikwelle wie ein Tsunami auf ihn zu.
Auf der Rückseite steht:
Sag niemandem deinen Namen! Verschwinde von hier! Dein Auto steht neben der Klinik. Schlüssel ist in der Reisetasche. Wenn du den Autozug hinter dich gebracht hast, werden sie dich kaum noch finden können. Hau so schnell wie möglich ab!!!
10
Bremen. Stadtwerder
Davor
Nachdem Matze und Enrico gegangen waren, waren auch Franziska, Miriam und Lorenz nicht mehr lange geblieben. Eine Geschäftigkeit setzte ein, die Karsten gegen den Strich ging. Alle hatten noch dies und das zu erledigen für die Fahrt nach Sylt am Tag darauf. Er nicht. Ein paar Sachen achtlos in eine Reisetasche zu werfen, hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.
Am Himmel hingen nun dunkle Wolken. Selbst direkt am Fluss ging kein Wind mehr. Bleiern schwer stand die schwüle Luft zwischen Häusern und Bäumen. Karstens Klamotten klebten auf der Haut. Die elektrische Spannung schien auf beinahe haptische Weise greifbar zu sein.
Mit einem Bier setzte er sich auf den verdorrten Rasen im Schrebergarten. Allein zurückgelassen, ohne die anderen, fühlte sich Karsten leer und verlassen. Er dachte über den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit nach und war sich nicht schlüssig, welcher Begriff seine Befindlichkeit besser beschrieb. Auf jeden Fall hatte ihm die Begegnung mit Matze die Stimmung versaut, und die Aussicht auf ein Wochenende in seiner Nähe, in seinem Haus, von seinen Gnaden sozusagen, machte es noch schlimmer. Er hätte sich nicht so schnell breitschlagen lassen sollen. Oder?
Er sah Lorenz vor sich, wie er vorhin mit roten Flecken an Hals und Wangen am Strand vor dem Café Sand gesessen war. Aus Vorfreude und vor Aufregung, das war Karsten klar. Er wusste über Lorenz’ Erinnerungen an Sylt Bescheid. Die besten Sommerferien überhaupt seien es gewesen, damals, als er mit 16 wegen seines Asthmas in eine Rehaklinik für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Viel besser als die üblichen Ferien, in denen er sich mit seinen Eltern in Fünf-Sterne-Klubanlagen auf den Malediven oder Seychellen zu Tode langweilte. Auf Sylt hatte er sich das erste Mal frei und erwachsen gefühlt. Die meisten Patienten wirkten nicht schwer krank, so dass es sich mehr wie in einem Ferienlager als in einem Krankenhaus anfühlte.
Lorenz lernte ein Mädchen aus Süddeutschland kennen, küsste sie bei Sonnenuntergang am Meer, und in der letzten Nacht stahlen sie sich davon, um in einem Strandkorb miteinander zu schlafen. Es war nicht ihr erstes Mal, wohl aber seins, und natürlich würde er das nie vergessen. Und so würde Sylt auf ewig in Lorenz’ Erinnerung ein nostalgisches und verheißungsvolles Leuchten behalten. Wollte Karsten also seinem besten Freund die Gelegenheit rauben, nach Sylt zu fahren?
Die Welt schien vor gespannter Erwartung die Luft anzuhalten. Eine unwirkliche Stille hing zwischen den reglosen Wipfeln der Bäume. Der