Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden
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»Genau. Und Karsten war so runter mit den Nerven, dass er beinahe das Abi geschmissen hätte. Anscheinend musste Lorenz ihn jeden Tag zur Schule schleifen und ihn in den Arsch treten, damit es doch noch geklappt hat.«
Miriam sah auf. Karsten stand in der Haustür, nur wenige Meter entfernt, und sah sie ungläubig an. Wie lang stand er dort schon?
»Ihr redet über mich?«, fragte er leise.
Franziska sprang auf, lief zu ihm und umarmte ihn. Er ließ es etwas steif über sich ergehen.
»Miriam hat gefragt, was zwischen Matze und dir vorgefallen ist, da hab ich’s ihr erzählt.«
Karsten löste sich aus Franziskas Umarmung. »Und? Habt ihr euch gut amüsiert?«
»Gar nicht!«, widersprach Miriam. »Ganz schön üble Geschichte.«
»Schnee von gestern«, brummte Karsten. »War zwar hart, eine scheiß Zeit, aber es ist vorbei. Ich hab gelitten wie ein Hund, aber ich hab es überlebt.«
Miriam sah Franziska an, dann prusteten beide los.
»Was ist?«, fragte Karsten irritiert. »Hab ich was Komisches gesagt?«
»Oh, Kasi«, kicherte Franziska, »du bist ja so ein Held!«
»Ja!«, rief Miriam, »ein echter Überlebenskünstler!«
»Ich finde es eigentlich nicht so komisch«, sagte Karsten tonlos.
Miriam hörte auf zu lachen und sah Karsten aufmerksam an. Alle Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.
»Armer kleiner Kasi«, legte Franziska nach. »Die Welt ist so gemein zu dir!«
Und da brüllte Karsten plötzlich los: »Hört doch auf! Vergesst es einfach! Es geht euch beide eh einen Scheiß an!«
Tränen liefen über seine Wangen. Jetzt tat er Miriam plötzlich leid. Und auch Franziska hatte aufgehört zu lachen.
»Entschuldigung«, sagte Franziska sanft. »Wir wollten dir nicht wehtun.«
Karsten schwieg.
»Weißt du«, fuhr sie fort, »du machst ein ganz schön großes Drama um diese Sache.«
»Weißt du«, äffte Karsten wütend Franziska nach. »Das war die beschissenste Zeit meines Lebens. Ich hab noch mehr gelitten als nach dem Tod meiner Mutter.«
Miriam horchte auf. Karstens Mutter hatte sich umgebracht und Karsten sie gefunden, das hatte Franziska ihr mal erzählt. Anscheinend war seine Mutter depressiv gewesen und hatte Karsten alle möglichen Vorwürfe und ein schlechtes Gewissen gemacht.
»Ja«, sagte Franziska gedehnt, »das kann ja sein. Aber es ist jetzt schon ziemlich lang her. Und trotzdem reagierst du auf das Thema immer noch, als wäre es erst letzte Woche passiert. Du suhlst dich in Selbstmitleid. Dabei warst du ja auch nicht ganz unschuldig daran, wie es gekommen ist.«
»Darf ich die Geschichte dann wenigstens mal aus meiner Perspektive erzählen?«
16
Bremen. Oberneuland
Lange davor
Matze hatte zu seinem 18. Geburtstag geladen. Die halbe Oberstufe des Gymnasiums sollte kommen, dazu noch ein paar blasierte Typen aus seinen Golf- und Tennisvereinen, die zu laut lachten und dünne blondierte Mädchen mit teuren Handtäschchen im Schlepptau hatten.
In der weiß gekiesten Auffahrt des Anwesens überreichten Matzes Eltern das Geburtstagsgeschenk an ihren Sohn: den Schlüssel zu einem dort postierten nagelneuen schwarzen Porsche Cayenne Turbo S mit Vollausstattung. Danach verzogen sie sich, um die Nacht im Parkhotel zu verbringen.
Der Pavillon lag im hintersten Winkel des weitläufigen Gartens, der eher ein Park war. Es war dunkel und ruhig, Grillen zirpten, und die Geräusche der Party, die Musik, die Stimmen waberten vom wechselnden Wind getragen mal leiser, mal lauter von der Villa herüber.
Karsten telefonierte mit Julia, wie immer um diese Zeit. Sie musste an jedem einzelnen Abend, an dem sie nicht bei ihm war, mit ihm telefonieren und ihm haarklein von ihrem Tag berichten, egal, ob etwas Interessantes passiert war oder – wie fast immer – nicht.
Karsten hatte die Gestalt nicht bemerkt und erschrak, als sie plötzlich vom dunklen Garten in den Pavillon trat und das Feuerzeugflämmchen ihr Gesicht erhellte.
Carina. Sie war eine Stufe unter ihm. Er kannte sie vom Sehen, hatte aber nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Sie strahlte etwas Unkompliziertes, Ungekünsteltes aus, ein Kumpeltyp, Marke »Mädchen zum Pferdestehlen«.
Durch sein Zusammenzucken erschrak wiederum sie, wodurch ihr der dicke Joint, den sie gerade angezündet hatte, zu Boden und Karsten vor die Füße fiel. Er griff nach ihm und nahm einen Zug. Stark, scharf, intensiv. Er musste husten. Sie nahm ihm mit spöttischem Grinsen die Tüte aus der Hand. Karsten sagte ins Telefon, dass er aufhören müsse, und legte auf.
»Zu doll?« Carina lachte. »Ich dreh keinen Tabak mehr rein, weil ich mit Zigaretten aufgehört habe. Und in den USA machen das alle so.«
»Ach ja?«, stieß Karsten hervor, immer noch hustend. »USA?«
»Ja«, sagte sie, »war gerade dort für ein halbes Jahr. Die kiffen dort alle ohne Tabak.« Sie hielt eine Flasche hoch.
»Dom Pérignon«, bemerkte sie. »Aus dem Privatkühlschrank im Keller. Trinkst du mit?«
»Ich denke, das tut jemandem, der einen Cayenne zum 18. bekommt, nicht weh.«
»Keine Sorge. Davon geht Matzes Familie nicht pleite.«
Carina kicherte leise und ließ den Korken in den dunklen Garten ploppen.
»Und wo genau warst du in Amerika?«
»Kalifornien. Direkt an der Pazifikküste zwischen L.A. und San Diego.«
»Hört sich gut an.«
»Ja, Glück gehabt.« Sie nahm einen Schluck aus der schweren Flasche und reichte sie ihm. In ihren Augen fingen sich Reflektionen weit entfernter Partylichter und ließen sie glitzern.
»Meine Gastfamilie war total locker. Der Vater ist Surflehrer und hat mir Wellenreiten beigebracht. Die Mutter ist Künstlerin und hat ein Atelier direkt an der Strandpromenade. Sie hat ständig Partys veranstaltet, auf denen die schrägsten Typen rumgelaufen sind. Ab und zu haben sie sogar mit uns gekifft. Und es war überhaupt kein Problem, wenn ich oder meine Gastschwester einen Typen über Nacht mitgebracht haben. Es war alles sehr entspannt.«
»Du hast einen Freund dort gehabt?«
»Nicht wirklich, nur ein paar kleinere Sachen.«
Trotz der Dunkelheit konnte Karsten erkennen, dass sie lächelte. Sie inhalierte tief und ließ den Rauch langsam aus der Nase quellen. Wo der Rauch die Balustrade des Pavillons erreichte, wurde er vom entfernten Scheinwerferlicht der Partybeleuchtung in Nebelschwaden verwandelt. Wie im Film,