Die Frauen von Janowka. Helmut Exner
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»Und warum muss ich nach Solomiak reiten? Ist Gottlieb noch nicht da?« entgegnete Friedrich. »Der ist noch beim Hinz; es kann heute spät werden mit dem Mähen. Nun mach schon, und wenn du wiederkommst, gibt es was zu essen.«
Gottlieb war Friedrichs sechzehnjähriger Bruder, der zur Zeit bei einem Nachbarn helfen musste, weil der Vater der Familie durch einen Sturz vom Pferd außer Gefecht gesetzt war. Außer Friedrich, Gottlieb und Mathilde hatten Karl und Christine Exner noch die achtjährige Martha. Mehrere Kinder waren früh gestorben.
Die Exners lebten von der Landwirtschaft, wie fast alle in dem kleinen von Deutschen bewohnten Dorf Janowka am Flüsschen Slusz. Christine, die Chefin der Familie, was natürlich nie jemand laut sagte, war Anfang vierzig, klein und dünn, dunkelhaarig, hatte braun-grüne Augen, die einem direkt in die Seele schauen konnten. Sie organisierte die Arbeit, auch die ihres Mannes Karl, ohne dass dieser es merkte, sagte wer was zu machen hatte und verwaltete das Geld. Wenn die meist jüdischen Getreide- oder Viehhändler kamen, war sie es, die ihrem Mann zunickte oder dezent mit dem Kopf schüttelte, um ein Geschäft zu machen oder weiter zu verhandeln. Neben der Hausarbeit kümmerte sie sich vor allem um das Vieh und den großen Hausgarten, half beim Heumachen und der Getreideernte mit, um ihrem Mann zu ermöglichen, noch etwas als Handwerker dazu zu verdienen. Es ging ihnen nicht schlecht.
Natürlich gab es auch arme Leute in der Gegend. Es gab arme Deutsche, die hier ebenso wie irgendwo anders nie auf einen grünen Zweig kamen. Und es gab arme Ukrainer, Polen und Russen, die es nicht geschafft hatten, nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 ihre Geschicke in die Hand zu nehmen. Es gab Leute, die lebten von der Hand in den Mund. Mancher Familie blieb nichts anderes übrig, als in Erdhütten zu hausen. Auch demjenigen, der seine Gesundheit und damit seine Arbeitskraft eingebüßt und keine Familie hatte, die ihn auffing, ging es oftmals schlecht. Das wirkungsvollste soziale Netz in dieser Zeit war eine große Familie, zu der auch weiter entfernte Verwandtschaftsgrade gerechnet wurden. Die Kirche war für Almosen zuständig, die Nachbarn für schnelle praktische Hilfe, für eine wirkungsvolle und dauerhafte Hilfe aber gab es die Familie. Daher verwundert es auch nicht, dass oft ganze Sippen gemeinsam oder nach und nach ausgewandert waren. Fast jeder im Dorf hatte eine umfangreiche Verwandtschaft in der Gegend, die sich durch Heirat ständig vergrößerte.
Man fühlte sich als Wolhynier, erst danach als Deutsche. Wolhynien, dieses Land im Nordwesten der Ukraine, war lange Zeit polnisch gewesen. 1792, nach der dritten polnischen Teilung, hatte der russische Zar das Land vereinnahmt. Als dessen Untertanen lebte man nicht schlecht. Im gesamten 19. Jahrhundert waren schon Deutsche hier eingewandert. In den 1860er Jahren, als viele der ehemaligen Leibeigenen den Gutsbesitzern davongelaufen waren, vergrößerte sich die Einwanderung. Aber es gab nur wenige, die als Knecht und Magd arbeiten wollten. Das hätte man in Deutschland auch gekonnt. Wer hierher kam, wollte sein eigener Herr sein, egal wie klein die eigene Scholle war oder wie hart man dafür arbeiten musste. Also blieb vielen Großgrundbesitzern nichts anderes übrig, als Teile ihres Landes zu verpachten oder zu verkaufen. Viel Land lag auch noch brach und wartete darauf, urbar gemacht zu werden. Die Leute rodeten Wald und legten Sümpfe trocken. Der Zar schaute auf dieses Treiben seiner neuen Untertanen mit großem Wohlwollen.
Wolhynien erlebte nach dem Zuzug der vielen Deutschen, die besonders seit den sechziger Jahren hier Fuß fassten, eine wahre Blütezeit. Die Wirtschaft florierte. In den größeren Orten gab es alle möglichen Handwerks- und auch erste Industriebetriebe und natürlich jede Menge Geschäfte, in denen es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte. Es wurden Häuser gebaut. Die Häuser mussten eingerichtet werden, was den Tischlern Arbeit brachte. Man brauchte Stoff zum Nähen, was bei den Tuchmachern für Beschäftigung sorgte, die wiederum Rohmaterial von den Bauern erwarben. Jeder musste sich kleiden, brauchte Schuhwerk. Werkzeuge wurden benötigt. Produktion und Handel blühten. Es herrschte Aufbruchstimmung. Der Wohlstand in dieser Provinz wuchs, während in vielen anderen Gegenden des russischen Riesenreiches bittere Armut herrschte. Dieses Phänomen, dass es mit der Wirtschaft bergauf geht, wenn viele Menschen ein dünn besiedeltes Land betreten und sich dort einrichten, kannte man in Russland schon seit Jahrhunderten, zum Beispiel an der Wolga oder im Schwarzmeergebiet. Es gab 1890 etwa zweieinhalb Millionen Deutsche, die im Zarenreich lebten, davon etwa zweihundertvierzigtausend in Wolhynien. Und das waren nicht die einzigen, die von weit her gekommen waren, um dort zu leben. Auch aus vielen anderen Ländern machten sich Menschen auf den Weg, um sich in Russland ein besseres Leben aufzubauen. Neben Russen, Weißrussen, Ukrainern, Polen und Deutschen zog es auch Holländer, Tschechen, Slowaken, Litauer und Ungarn hierher. Dazu gesellten sich etliche einzelne Glücksritter aus vielen anderen Ländern, die hier zu Wohlstand kommen wollten. Es kamen auch nicht wenige Menschen, die aus religiösen Gründen in anderen Ländern verfolgt wurden. Mennoniten, Hutterern, Baptisten und anderen wurde hier Religionsfreiheit zugesagt. Die Zuwanderer hatten das ganze Reich befruchtet. Doch damit war es längst vorbei. Zwischen dem Zaren und dem deutschen Kaiser herrschte Spannung. Den Deutschen wurden plötzlich alle möglichen Privilegien gestrichen, egal ob es um Steuern ging, um den Militärdienst oder um die deutsche Sprache in der Schule. Unter Alexander III. ging es mit den Deutschen in Russland allmählich bergab, ebenso wie mit anderen Minderheiten. Besonders schmählich wurden die Juden behandelt. In den Schtetls gab es zwar etliche Juden, denen es recht gut ging, einige waren sogar wohlhabend, aber es gab auch bittere Armut. Und unter Zar Nicolaus II. verschlimmerte sich die Situation stetig. Hinzu kamen die ständig wachsenden Unruhen in der russischen Bevölkerung. Die Alleinherrschaft des Zaren und die Privilegien des Adels wurden mit eiserner Gewalt verteidigt. Nach der Revolution von 1905 war ein Spitzelsystem installiert worden, das politisch Auffällige entlarvte. Es reichte schon eine falsche Bemerkung, die man im Suff von sich gegeben hatte, und man fand sich in einem sibirischen Straflager wieder.
- Kapitel 2 -
Friedrich war in leichtem Gallopp auf seinem Braunen unterwegs. Wie immer, wenn er allein war, ließ er seine Gedanken schweifen. Die Bauernhöfe und Felder, an denen er vorbei ritt, nahm er gar nicht wahr. Stattdessen dachte er daran, ob er in Solomiak dem einen oder anderen Mädchen begegnen würde. So zwei, drei von ihnen hatte er schon ins Auge gefasst. Aber was sollte er tun, wenn ihm eines dieser begehrten Geschöpfe über den Weg lief? Abrupt anhalten? Er ließ das Pferd erst mal Schritt gehen. So, wenn mir jetzt eines dieser Mädchen begegnet, kann ich eine Unterhaltung anfangen, ohne dass es aufdringlich aussieht. Es war schon ein Kreuz mit den Weibern. Die, die in seinem Alter waren, wollten gleich heiraten. Oder sie hatten Eltern, die sie unter die Haube bringen wollten. Und mit den Fünfzehn- oder Sechszehnjährigen konnte man nichts anfangen, ohne das Risiko einzugehen, sich einen Schlag mit dem Dreschflegel von einem erbosten Vater einzufangen. Und wenn es doch gelang, einem Mädchen im Verborgenen nahe zu kommen und es passierte etwas, dann musste man trotzdem heiraten. Nein, dafür liebte er seine Freiheit noch zu sehr. Er war schon froh, dass er der Sippe seines Großvaters entkommen war. Denn sonst würde er vermutlich sein Dasein an irgendeinem Webstuhl fristen. Einige seiner Cousins unten in der Gegend um Dubno arbeiteten in der Fabrik von Onkel Robert. Andere, besonders die Frauen in der Familie, hatten einen Webstuhl zuhause und schufteten sich krumm. Das wäre kein Leben für ihn. Gott sei Dank war sein Vater Bauer. Und das Land hier war groß genug, um es sich mit seinem Bruder Gottlieb eines Tages zu teilen, wenn man noch etwas hinzukaufte. Hätten seine Eltern nicht die Initiative egriffen, hierher zu kommen, wäre er wahrscheinlich auch in der Tuchfabrik gelandet. Mit mir nicht, dachte er. Und für Ehe und Kinder bin ich auch noch zu jung. Er war ganz verdutzt, als er plötzlich sein Ziel erreicht hatte und aus den Gedanken gerissen wurde.
»Scholem-alejchem, Salomon.«
»Ah, der Friedrich. Ich hab schon denkt, du kumst nikt mehr oder die Butter is nikt dick worden bei diesem Weter.«
Der junge Salomon kam einmal pro Woche in die Kolonie Solomiak, um sich von den Bauern aus der Gegend die Butter bringen zu lassen, die seine Eltern in der Kreisstadt Kostopol verkauften. Er war ein etwa dreißigjähriger, bärtiger