Finsterdorf. Peter Glanninger
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»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann bestimmt, aber nicht unhöflich. »Das hier ist ein Privatgrund.«
Radek war überrascht. Der Typ sah aus wie ein Bodyguard oder der Türsteher einer Diskothek in der Großstadt und passte überhaupt nicht in diese Gegend.
»Ich wollte mir die Burg ansehen«, sagte Radek wahrheitsgemäß, dennoch alarmiert. »Und ich dachte, es gibt einen Weg rundherum.« Er machte auf naiven Touristen, das konnte nie schaden.
»Nein, es gibt keinen Weg um die Burg. Die Burg ist bewohnt und Privatbesitz. Der Herr Baron wünscht nicht, dass sich Leute hier herumtreiben.«
Aha, wieder der Herr Baron, der was nicht wünscht, dachte Radek.
»Sie müssen zurück ins Dorf. Von dort haben Sie mehrere Möglichkeiten, um im Wald oder auf den umliegenden Bergen zu wandern«, erklärte ihm der Mann. Er sprach wie mit einem ungezogenen Kind und baute sich vor Radek auf.
Radek war klar, dass der Parkplatzwächter ihn ohne zu zögern mit Gewalt am Weitergehen hindern würde. »Danke für die Auskunft«, sagte er deshalb und warf noch einen Blick auf die Autos. Euer Hochwohlgeboren wünscht gewiss, mit seinen Gästen ungestört zu sein, lag ihm auf der Zunge. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter, weil er den Großen nicht unnötig provozieren wollte. Er machte brav kehrt, ging die Straße zurück ins Dorf und suchte sich von dort einen Wanderweg in den Wald.
8.
Der herbstliche Wald lud nicht nur zum Wandern ein, sondern auch zum Fotografieren. Die Sonne in den Bäumen, die unterschiedlichsten Farbtöne der Blätter, die im sanften Gegenlicht aus jedem Blickwinkel anders wirkten, diese spätsommerliche Stimmung lockte nicht nur Spaziergänger in die Natur, sondern auch so manchen Hobbyfotografen.
Deshalb fiel der Mann nicht auf, der mit einer kleinen Fototasche durch den Wald schlich. Ja, es war ein Schleichen, kein Gehen. Er wollte nicht gesehen werden. Und leise zu sein war dafür die erste Voraussetzung. Aus diesem Grund hatte er nur das Nötigste dabei: das Gehäuse seiner Canon EOS 2000D, zwei Zoomobjektive, einen Telekonverter, ein Stativ. Und ein Nachtsichtgerät. Er durfte kein Licht verwenden. Er legte Wert auf wenig Ausrüstung, wollte nicht mit einer riesigen, schweren Fototasche herumlaufen, damit auffallen und von ihr behindert werden. Er musste beweglich bleiben. Er war nicht gekommen, um Bäume oder Blätter zu fotografieren.
Der Fotograf wusste genau, wohin er musste. Er war nicht zum ersten Mal hier. Alles war vorbereitet. Er hatte ihre Autos gesehen, als sie durch das Dorf fuhren, und hatte gewusst, es war wieder so weit. Er bemerkte nicht immer, wenn sie kamen. Sie trafen sich unregelmäßig, wahrscheinlich vereinbarten sie bei jedem Treffen bereits ihren nächsten Termin. Aber er sah sie häufig, das genügte ihm.
Er hatte sein Zeug geschnappt und war in den Wald hinaufgegangen. Seine Frau wunderte sich nicht mehr darüber. Er hatte erst vor wenigen Jahren mit dem Fotografieren begonnen, und sie war froh gewesen, dass er ein Hobby gefunden hatte, welches ihm Freude bereitete und ihn darüber hinaus noch dazu bewegte, in die Natur zu gehen. Und seine Kinder scherten sich sowieso nicht um das, was er machte, solange er sie nicht damit nervte oder es ihnen peinlich wurde.
Langsam und vorsichtig bewegte er sich durch den Wald. Niemand durfte ihn sehen oder bei dem, was er tat, erwischen. Er hatte keine Ahnung, was sie dann mit ihm tun würden, aber er wusste, dass es nichts Angenehmes sein würde.
Immer wieder verharrte er still und lauschte wie ein Jäger. Im Grunde war er das auch – ein Jäger. Aber ohne Gewehr und nicht hinter Tieren her.
Ohne Probleme fand er die Abzweigung vom Pfad, die nur er kannte. Hinein in den Wald, weg von den Wanderern und Spaziergängern, die sich selten um diese Zeit noch im Wald herumtrieben.
Immer tiefer drang er in das Dickicht vor, bis er an den Waldrand kam. Dahinter lagen eine leicht abfallende Futterwiese, die Burg und darunter das Dorf. Der Waldrand war dicht verwachsen mit wilden Hecken und Büschen, mit Brombeer-, Haselnuss- und Holundersträuchern. Er hätte auch über die Futterwiese zu seinem Platz gehen können, aber dabei lief er Gefahr, vom Dorf oder von der Burg oder von der Straße, die zum Friesenbichler-Bauern führte, gesehen zu werden, und das hätte alle seine Pläne zunichtegemacht.
Er war schon oft hier gewesen, sehr oft sogar, und hatte mit einer Heckenschere eine Nische in das beinahe undurchdringliche Dickicht geschnitten, sodass er nahe genug an den Wiesenrand kam, um einen freien Blick nach unten zu haben.
Eine perverse Neugier befiel ihn, als er die Fotoausrüstung auspackte. Er stellte das Stativ mit einem kräftigen Ruck auf den Boden, schraubte das Kameragehäuse fest und drehte den Zweifach-Telekonverter mit dem 70-300er Zoomobjektiv auf den Fotoapparat. Er steckte den Fernauslöser an.
Dann spähte er durch den Sucher und aus dem Dickicht. Ja, das war gut, viel besser als beim letzten Mal. Er veränderte die Brennweite und machte die ersten Fotos von dem Pärchen, das eben mit dem Auto unter ihm die Straße hochfuhr und auf dem Parkplatz anhielt. Perfekt, es war perfekt! Eine unbestimmte Erregung ergriff ihn.
Während er fotografierte, überlegte er bereits, ob sein Versteck für die Bilder sicher war. Denn er musste sie verstecken, wie die anderen Fotos auch, die er von hier aus geschossen hatte. Niemand durfte sie finden. Daher vertraute er auch keinem. Weder seiner Frau noch seinen Kindern. Sie waren keine schlechten Menschen, im Gegenteil, aber sie waren genauso verführbar wie die anderen. Deshalb traute er ihnen nicht über den Weg. Und den Leuten im Dorf sowieso nicht.
Er bereute es, den Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben. Der Herbst, der sich im Wald in strahlenden Farben präsentierte, hätte eine Menge schöner Fotomotive geboten. Radek hatte eine der Wanderrouten aus der Broschüre, die ihm Falk gegeben hatte, ausgewählt und war eine lange Runde im Wald gegangen, bei der er fast zwei Stunden unterwegs gewesen war.
Jetzt saß er auf der Terrasse vom Gasthaus »Falk«, hatte ein herrlich kühles Bier vor sich auf dem Tisch und blätterte in der Broschüre, um eine Wanderung für den nächsten Tag zu suchen.
Schräg gegenüber vor einer Fleischhauerei standen zwei ältere Frauen auf dem Gehsteig und tratschten. Offensichtlich hatten sie eine ganze Menge zu besprechen, denn als Radek das Bier halb ausgetrunken und für morgen eine Tour gefunden hatte, waren sie noch immer dort. Während er überlegte, was wohl so interessant sein könnte, dass es die beiden Frauen dazu brachte, ein zufälliges Treffen derart auszudehnen, kam ein etwa 20-jähriges Mädchen in einem langen dunklen Mantel den Gehsteig entlang. Bevor sie die beiden Frauen erreicht hatte, unterbrachen diese ihr Gespräch, wichen zur Seite, senkten in einer unterwürfigen Geste die Augen und ließen die Jüngere vorbeigehen. Danach setzten sie ihr Gespräch fort, allerdings steckten sie nun die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Immer wieder blickten sie verstohlen der jungen Frau nach, als hätten sie Angst, dass das Mädchen sie hören und zurückkommen könnte. Radek wunderte sich, warum die beiden Klatschtanten sich vom Auftauchen der jungen Göre so einschüchtern ließen, einfach zur Seite traten, ohne ein Wort zu sagen, jetzt aber ihr Gift über die Jugendliche und das eben Geschehene verspritzten.
Immer das gleiche Spiel, dachte er, zuerst kuschen, sich nicht trauen, aufzustehen, und sich dann das Maul zerreißen. Er trank sein Bier aus. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden und es wurde kühler. Zeit, hineinzugehen.
Zwei Stunden später saß er in der Gaststube, und während er aß, füllte sich das Lokal. Männer setzten sich an die Theke, tranken Bier oder Wein, gingen wieder, machten damit Platz für andere. An den Tischen sammelten sich einige Jugendliche. Es war Samstagabend und das Schandauer Nachtleben ziemlich bescheiden, vermutete Radek. Wer nicht mit dem Auto in eine der größeren Städte