Hetzwerk. Peter Gerdes

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Hetzwerk - Peter Gerdes

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antwortete Kramer.

      Stahnke schnappte nach Luft, unterdrückte einen Schmerzensschrei, versuchte, Kramers Gedanken zu folgen. Sie? Kramer, Ekinci, Stahnke selbst, die Spurensicherung, kurz: die Polizei? War dies ein Anschlag auf die Polizei gewesen?

      Dann hätte es sich bei dem Molli um einen Köder gehandelt. Den Wurm am Haken. Jemand meldet den Brand, Feuerwehr und Polizei rücken an, normales Procedere. Innerhalb von ein bis anderthalb Stunden ist der erste Zugriff abgeschlossen, Feuerwehr und Spurensicherung haben ihren Job gemacht, die Kripo rückt an und beginnt zu ermitteln. Darunter der eigens aus Aurich herbeigerufene Hauptkommissar Stahnke, Leiter des Fachkommissariats römisch eins. Und dann: Bäng.

      »Wer hat den Brand gemeldet?«, fragte er.

      »Anonymer Anrufer«, sagte Kramer.

      Die beiden Ermittler schauten einander an. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen, mussten nicht mehr viele Worte machen. Was Kramer da angedeutet und Stahnke sich ausgemalt hatte, konnte so gewesen sein, musste es aber nicht. Absolut nicht. Nicht ohne irgendeinen konkreten Hinweis.

      »Das Opfer ist Paul Hinderks«, sagte Stahnke. »Er hat von Beschimpfungen und Drohungen erzählt, ohne allerdings konkret zu werden. Da müssen wir ansetzen.«

      Kramer nickte und zückte seinen Notizblock. »Ich habe mir die Rede zusammenfassen lassen, die er gestern auf der Maikundgebung gehalten hat«, berichtete er. »Schwerpunktthemen: Tarifflucht der Arbeitgeber, Niedriglöhne trotz guter Konjunktur, Lohndruck durch unterbezahlte Leiharbeit. Und die neue Rechte.«

      »Die neue Rechte?« Das hatte Stahnke dem kleinen staubgrauen Gewerkschaftsbevollmächtigten gar nicht zugetraut. Auf den ersten Blick jedenfalls. Doch Hinderks hatte sich durchaus kampflustig präsentiert. Jetzt war er tot.

      Kramer nickte. »Muss wohl ein Thema sein in den Gewerkschaften. Da fischen die Rechten nach Stimmen, haben auch schon einige Betriebsräte in der Hand. Das läuft über die Neidschiene: Den Migranten steckt der Staat alles in den Hintern, und ihr könnt euch kaum den Mallorca-Urlaub leisten! Das ist plump, verfängt aber. Immer mehr Arbeiter und Angestellte wechseln direkt von der SPD zu den Rechten. Also den ganz Rechten.«

      Stahnke signalisierte, dass er noch mehr trinken wollte, und bekam das Mundstück des Bechers zwischen die Zähne geschoben. Das war damals in Weimar genauso, dachte er, während er gierig trank. Vielmehr in der Weimarer Republik. Damals liefen auch und gerade die Arbeiter, die zuvor Anhänger von SPD und KPD gewesen waren, in Scharen zu den Nazis über, ohne Umweg über gemäßigte Parteien. Weil die Nazis ihnen das Blaue vom Himmel versprachen, das Heil sozusagen. Und weil sie ihnen einen Sündenbock lieferten, der an allem schuld sein sollte. Praktisch, so musste sich niemand an die eigene Nase fassen.

      Genug getrunken; er hob die flache Hand. »Die neuen Rechten also. Wo sollen wir da anfangen? Bei der AfD? Fraglich. Die meisten Rechtsnationalen heutzutage sollen doch gar nicht parteigebunden sein, mehr so freischwebend. Wie die Reichsbürger oder die Identitären. Tausende von Einzeltätern sozusagen.«

      »Gut vernetzt sind die trotzdem«, sagte Kramer. »Das Einzeltätertum ist eine reine Schutzbehauptung. Wenn es drauf ankommt, halten die alle zusammen.« Der Oberkommissar stellte den Schnabelbecher weg. »Aber was heißt denn wir? Du bist verletzt, du bleibst schön in der Waagerechten. Es kommt sowieso Ersatz aus Aurich.«

      Aurich. Da war doch noch etwas. Stahnke stemmte sich mit den Ellenbogen hoch. Die angebrochene Rippe schmerzte wie verrückt, aber je klarer er im Kopf wurde, desto besser ließ sich das aushalten, so widersinnig ihm das auch vorkam. Angebrochen war eben nicht gebrochen. Aber was war denn da bloß vorhin in Aurich gewesen?

      »Ihre Fürsorge in allen Ehren, Herr Kramer«, hauchte die Geisterstimme aus dem Hintergrund, »aber Bettruhe tut für Ihren Vorgesetzten gar nicht not. Der bekommt gleich einen festen Druckverband, und dann kann er schon wieder auf zwei Beinen laufen. Aufrechter Gang auf Rezept. Lange Liegezeiten sieht das profitorientierte Krankenhauskonzept heutzutage sowieso nicht mehr vor. Ich sag gleich der Schwester Bescheid.« Schon schwebte Doktor Mergner aus dem Krankenzimmer.

      Für einen Moment war es der sonst so stoische Kramer, der aus dem Konzept kam. Mit dieser Schützenhilfe für seinen Chef hatte er nicht gerechnet.

      Bei Stahnke setzte im selben Augenblick die Erinnerung ein. Der schwarze Audi, der ihm die Vorfahrt genommen hatte! Der war nicht nur deutlich zu schnell gewesen, er hatte auch allerhand Aufkleber am Heck gehabt, von der Deutschlandfahne bis zum Totenkopf. Und auf der hinteren Scheibe den Schriftzug »Frei.Wild«.

      Jetzt fiel ihm auch das Kennzeichen wieder ein. AUR – AH 818.

      Stahnke holte langsam Luft, sodass der Schmerz erträglich blieb, und schwang die Beine aus dem Bett. »Ruf mal in der Inspektion an«, forderte er seinen Kollegen auf. »Wir benötigen eine Halterfeststellung.«

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