Ein reines Wesen. Isabella Archan
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Читать онлайн книгу Ein reines Wesen - Isabella Archan страница 11
»Geht es Herrn Kritzel gut?«
»Was für eine Frage. Du warst doch zur Visite heute Vormittag eingeteilt.«
»Nein.«
»Hat Dr. Schmitz zu dir etwas gesagt, bevor er weggefahren ist?«
»Nein.«
»Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?«
»Nichts, Edda. Ich wollte nur–«
Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Ich wollte nur wissen, ob der alte Herr ermordet worden ist? Doch das war keine Frage, die man im Vorbeigehen seiner Vorgesetzten stellte.
»Was ist denn nun, Nicole, mit dem Patienten?«
»Nichts. Alles gut.«
Edda Leistenberger bedachte die Krankenschwester mit einem bösen Blick, bevor sie sie stehen ließ und weiterhetzte. Ihre Schuhsohlen qietschen leicht auf dem Marmorboden im Klinikflur. Wieder einmal fühlte sich Nicole ungerecht behandelt. Hatte Edda nicht für die anderen Schwestern und Pfleger immer ein offenes Ohr?
»Und, Nikki, nix zu tun?«
Nicole stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Stimme in den Rücken traf.
»Bist du aber schreckhaft heute.«
Marvin, einer der Pfleger, war hinter ihr aufgetaucht. Wie meistens war er guter Laune. »Na, Nikki? Bist du ein ›Wasserl‹?«
»Ach geh!«
Obwohl sie es nicht mochte, dass jemand ihren Heimatdialekt imitierte, musste sie lächeln.
»Und nein, Marvin, ein Waserl bin ich nicht. Nur etwas aufgewühlt. Außerdem hast du es falsch ausgesprochen. Waserl…«
Er zuckte mit den Schultern. »Egal.«
»Edda ist heute wieder ätzend: Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?« Nicole äffte ihre Vorgesetzte nach. »Ich hasse es, wenn Sie einen von uns beim Nachnamen anspricht. Man hat das Gefühl, sie hält sich für etwas Besserer.«
»Lass Edda in Ruhe. Sie hat einen harten Job.« Pfleger Marvin nahm die Oberschwester in Schutz. »Und eine harte Zeit im Privaten.«
Nicole wusste leider wenig über Edda Leistenbergers Privatleben. Gerne hätte sie Marvin dazu ausgefragt, aber der junge Mann setzte sich bereits wieder in Bewegung.
»Waserl!«, rief er Nikki noch zu. »Jetzt stimmt es aber.«
Sie überlegte, aber ihr wollte kein einziger Ausdruck auf Saarländisch einfallen, mit dem sie ihn hätte zurücknecken können. Dazu lebte sie erst zu kurz in dem Bundesland. Stattdessen suchte sie diesmal die Personaltoilette hinter dem Schwesternzimmer auf. Sie schloss sich in der Kabine ein und setzte sich auf den geschlossenen Deckel.
Hatte sie sich vorhin geirrt? Etwas gesehen und falsch interpretiert? Sie kannte sich und ihre Vorliebe zu Geschichten und Übertreibungen. Der Hang, zu jeder Story, die sie über andere erfuhr, eigens erfundene Ausschmückungen hinzuzufügen, hatte ihr auch hier schnell den Ruf einer Tratsche eingebracht.
Aber diesmal war doch alles echt gewesen. Bei dieser grauenhaften Beobachtung brauchte es keine ihrer Zugaben. Oder?
Das Gefühl der Einsamkeit kam hoch. Wie ein ungebetener Besucher, der sich täglich mehrfach blicken ließ. So gerne hätte sie mit jemanden darüber gesprochen, aber außer losen Bekanntschaften gab es in Saarbrücken und an ihrer neuen Arbeitsstelle in der Klinik niemanden, dem sie sich anvertrauen wollte. Nicht, dass es bei ihrem vorherigen Job im Evangelischen Krankenhaus in Köln anders gewesen wäre. Auch aus ihrer Heimat Österreich waren ihr nur lockere Kontakte geblieben.
Wer trug daran die Schuld? Alle. Und niemand. Sie selbst? Das Schicksal vielleicht. Das Leben war ungerecht, aber es war das einzige, das ein Mensch hatte. Guter Spruch, den sie in einer der Klatschzeitschriften gelesen hatte.
Nicole legte beide Hände aufs Gesicht und beugte sich vor. In der Dunkelheit der Handflächen ließ sie vor ihrem inneren Auge das Geschehen im Krankenzimmer noch einmal Revue passieren. An dem Punkt, an dem sich das Kissen auf Ludwig Kritzels Gesicht gesenkt hatte, hielt sie inne.
Nein, stopp. Sie hatte sich geirrt. Definitiv.
Ihr Gehirn war durch die vielen TV-Krimis, die sie sich leidenschaftlich gerne ansah, auf ein mögliches Verbrechen programmiert. Sie hatte den Ablauf einfach weitergesponnen. Das war die Erklärung. Wie damals, als sie sich sicher gewesen war, dass ein Einbruch in ihrer Wohnung stattgefunden hatte, obwohl es keine Spuren davon gegeben hatte und nichts fehlte. Oder vor einer Woche, als sie gedacht hatte, dass sie jemand abends auf dem Nachhauseweg verfolgen würde. Nichts davon war wahr gewesen.
Zeit, den Dienst wieder aufzunehmen.
Ein Lächeln kam über ihre Lippen.
Eines bliebt ihr immer. Die Fürsorge für die Patienten. Ihre Arbeit mochte sie. Zu Hundertprozent. Im Dienst an den Kranken war sie wichtig, konnte sie sich mit anderen austauschen. Durch ihre Leistung wurde sie ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Das Helfen war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Schon als kleines Mädchen, als sie zu früh die Verantwortung für ihren alkoholkranken Vater übernommen hatte. Nicht Mama, die hatte nur geweint oder geschimpft. Nicole hatte Papa zur Seite gestanden und dabei geholfen, seine Sucht vor anderen zu verbergen. Selbst nach seinem Tod hatte sie die Legende eines Krebsleidens aufrecht erhalten und damit seine Reputation gerettet. Doch jetzt war nicht die Zeit, über ihre schwierige Kindheit nachzudenken.
Nicole stand auf, betätigte automatisch die Spülung.
Vielleicht würde sie im Schwesternzimmer auf jemanden treffen, mit dem sie über Oberschwester Leistenberger ablästern konnte. Damit würde sie sich besser fühlen.
Kaum aus der Toilette, sah sie Marvin den Krankenhausgang entlanglaufen. Er überholte zwei ältere Patienten, die mit Rollatoren ihre Runden drehten.
»Wohin so eilig?«
Er hielt mitten im Schritt inne. Sein Oberkörper bewegte sich weiter nach vorne, dass es aussah, als würde er einen Diener machen. Nicole lachte.
»Nikki, hast du es nicht gehört?«
»Was denn? Dass du vor Edda davonrennst?«
Er sah sie irritiert an. »Keine Ahnung, wovon du redest. Aber ein Patient ist gestorben. Der nette Herr Kritzel.«
»Ludwig Kritzel?«
»Genau.«
»Oh Gott.« In Nicoles Ohren entstand ein hoher singender Ton. »Weißt du, woran er gestorben ist, Marvin?«
»Nö. Vielleicht ein Herzstillstand. Es ging ihm die Tage doch schon nicht gut.«
Marvin setzte seinen Lauf fort.
Nicole wurde wieder übel. Sie stolperte in die entgegengesetzte Richtung, erneut auf die Personaltoilette. Aber in ihrem Magen gab es nichts mehr, was noch hochkommen konnte.