Ein reines Wesen. Isabella Archan
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Ludwig Kritzel war tatsächlich tot. Herzstillstand?
Lachhaft. Sie wusste es besser. Der alte Mann war unter einem Kissen erstickt. Die Leichenschau würde es bestätigen. Nikki setzte alle Hoffnung in Dr. Schmitz, einen der beiden Klinikleiter. Wenn er zurückkam, würde er sich der Sache annehmen. Bado Schmitz. Er war kompetent und liebenswürdig und sie schwärmte schon länger für ihn. Wenn sie sich in Tagträumen verlor, war er der neue Mann an ihrer Seite.
Sie stoppte diesen Gedanken. Ein zweiter drängte sich in den Vordergrund. Was, wenn später auch ihm nicht auffiel, dass Ludwig Kritzels Sterben kein natürliches Dahinscheiden war? Bei einem Mann in seinem hohen Alter war der Tod ein ständiger Begleiter und überraschte niemanden.
Dann gehst’ zur Polizei.
Eine Stimme in Nicoles Kopf. In ihrem Heimatdialekt.
Nein. Denn dann werde ich noch einsamer sein.
Hör auf zu jammern, du Vaserl. Du gehst.
»Ja«, Nikki sprach zu ihrem Spiegelbild. Sie sah, wie sich ihre Lippen öffneten und wieder schlossen.
Versprochen?
»Versprochen.«
10
Das Schwimmbad im Hotel am Triller war am Morgen bereits gut besucht.
Diese Frühschwimmer waren drei Senioren und zwei Mütter mit Kleinkindern. Dazu ein jüngerer Mann, der sich kraulend von Beckenrand zu Beckenrand bewegte und rücksichtslos an den anderen vorbeizog.
Willa passte in keine dieser Kategorien.
Sie war hier, weil sie ohnehin seit fünf Uhr keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Die kleine Flasche Wein aus der Minibar vor dem Zubettgehen hatte sie zwar schnell einschlafen lassen, aber wilde Träume hatten sie heimgesucht.
Willa zog ihre Bahnen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sie drehte sich oft, wechselte die Haltung. Das Brustschwimmen bereitete ihr Schmerzen. Egal, ob sie sich Zeit ließ, wie der letzte Physiotherapeut es ihr geraten hatte, oder ob sie mit zusammengebissenen Lippen ihren Körper antrieb und trotz der Qual bis zum Beckenrand durchhielt.
Die Hüfte war es, die höllisch weh tat, seit ihrer Rückkehr aus dem Dornröschenschlaf, wie Harro es gerne benannte. Das Wort Koma vermied er genauso wie die Kollegen und Willas Mutter.
Zu Anfang waren die Schmerzen über ihren gesamten Körper verteilt gewesen. Jeder Muskel schien sich zurückgebildet zu haben, jedes Gelenk versteift. Ihr Nacken knackte während den ersten Behandlungen derart laut, dass sie jedes Mal erschrak und befürchtete, ihre Wirbelsäule könnte brechen. Erst, als ihr der Therapeut erklärte, dass dieses Geräusch ein gutes Zeichen war, weil es signalisierte, dass die Wirbel wieder in ihre richtigen Positionen kamen, ließ sie ihn uneingeschränkt an sich hantieren.
Das Training war hart, qualvoll und unerbittlich. Der Erfolg stellte sich nur langsam ein. Die ungeduldige Willa musste lernen, sich Zeit zu lassen.
Das Problem mit der Hüfte blieb jedoch hartnäckig. Schmerzen waren zu täglichen Begleitern geworden. Bei zu langem Gehen oder Stehen knickte die linke Seite regelrecht ein. Eine Gehhilfe lehnte sie strikt ab.
Die linke Körperhälfte blieb im Ganzen problematisch.
Manchmal flackerte ihr linkes Auge und eine Sehstörung stellte sich ein. Derart, dass sie ein Bild vor sich doppelt und zeitversetzt wahrnahm. Glaskörperablösungen hieß das Phänomen und war angeblich harmlos. An den Fingern der linken Hand brachen ihre Nägel regelmäßig ab und ihr Herz veranstaltete manche Nacht einen Trommelwirbel, als würde es eine Big Band anführen.
Harte Zeiten, seit sie erwacht war.
Ihr Lebensabschnitt nach dem Koma war zu einem Kampf mit ihrem Körper geworden. Ein stetiger Wechsel zwischen Erfolgserlebnissen und deprimierenden Abstürzen. Dankbar war Willa nur für eines: Die Beschwerden lenkten sie von den Geschehnissen ab, die zu dem Schlag auf ihren Kopf, dem Schädelbasisbruch und ihrer Auszeit geführt hatten.
Jeden aufkommenden Gedanken an die Abfolge, die Gründe, die absehbare Katastrophe schob sie mit derselben Verbissenheit in ihren unterbewussten Speicher zurück, wie sie die Übungen absolvierte.
Sie weigerte sich, mit der Polizeipsychologin zu reden, sie unterließ es, den Kollegen ihres Teams einen Bericht zu schreiben. Der Fall, und gleichermaßen ihr Fall, war polizeilich dokumentiert, ihre Aussage nicht unbedingt erforderlich, also gab sie eine vollkommene Gedächtnislücke an.
Keine weitere Erklärung dazu. Basta.
Ihr Verdrängungsmechanismus wurde immer perfekter. Was geschehen war, war geschehen, begraben und mit Erde bedeckt. Namenloses Grab. Irgendwo im Nirgendwo eine Leiche, die sich Monat für Monat mehr zersetzte.
Wegen der körperlichen Probleme und weil sie konsequent die Gespräche beim psychologischen Dienst verweigerte, durfte sie nicht zurück in den aktiven Außendienst und in das Team um Hauptkommissar Peter Kraus. Zwar war sie ihm weiterhin unterstellt, aber es würde in naher Zukunft keine Einsätze geben.
Büroarbeit und Innendienst waren die meistgehassten Wörter, die Willa nun in ihrem Repertoire hatte.
Trotzdem war sie ihrem Chef dankbar. Hatte er doch, während sie an Maschinen angeschlossen im Krankenhaus gelegen hatte, ihre Festanstellung bei der Kölner Kripo durchgesetzt. Ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Doch der Spruch der Buddhisten hatte sich bewahrheitet: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen.
Das Wasser war Willas neues Element geworden. Schwimmen war eine Möglichkeit, die Gedanken laufen zu lassen und weiter die körperlichen Beschwerden zu verbessern. Brustschwimmen war zwar grausig schmerzhaft, aber, wenn sie sich drehte, wechselte die Anstrengung in reine Freude.
Warum ihr das Rückenschwimmen nichts ausmachte, konnte ihr kein Arzt erklären. Einer hatte ihr geraten, es einfach zu genießen, was sie jedes Mal tat. Dabei konnte sie sich strecken und dehnen, sich wieder wie früher spüren. In der Bewegung im Wasser lag das Versprechen einer möglichen vollkommenen Genesung. Das Eintauchen erschien ihr wie die Verheißung auf eine Rückkehr in ihr früheres Leben.
Inspektorin Willa Stark.
In Graz geboren und aufgewachsen, ihre Ausbildung absolviert, über Europol nach Köln gekommen.
Erfolgreich war sie gewesen, auch beim letzten Fall vor dem Koma, aber über den herrschte ja Stillschwiegen. Ungesund für deine Psyche, sagte auch Harro, der gute Freund an ihrer Seite. Sein verheultes und zugleich so glückliches Gesicht, als er sie das erste Mal im Krankenhaus nach dem Aufwachen besucht hatte, würde sie nie vergessen. Auf allen Ebenen hatte er sie unterstützt, hatte sich die ersten Wochen Urlaub genommen, um ganz für seine Willa da zu sein.
Seine Willa.
War das der Grund gewesen, warum sie ihn noch mehr abgeblockt hatte, als in der Zeit davor? Seine Zuneigung, seine Fürsorge waren ihr zuviel geworden. Sie hatte sich eingeigelt und die Unnahbare gespielt. Obwohl sie es auch genossen hatte, von ihm umsorgt zu werden. Seine Enttäuschung über ihren Rückzug hatte Harro nie offen gezeigt,