Heidis Lehr- und Wanderjahre. Johanna Spyri
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Читать онлайн книгу Heidis Lehr- und Wanderjahre - Johanna Spyri страница 3
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: „Dort!“ Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
„Du Unglückstropf!“ rief die Base in grosser Aufregung; „was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?“
„Ich brauch es nicht“, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.
„Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?“ jammerte und schalt die Base weiter; „wer sollte nun noch einmal da hinunter; es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt!“
„Ich komme schon zu spät“, sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Flecke stehen, von dem aus er, beide Hände in die Tasche gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.
„Du stehst ja doch mur und reissest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art“, rief ihm die Base Dete zu; „komm her, du sollst etwas Schönes haben, siehst du?“ Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück (etwa 4 Pfennig) überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in voller Breite; denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.
„Du kannst mir das Zeug noch bis zum Öhi hinauftragen, du gehst ja auch den Weg“, sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Geissenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um sein Bündel geschlungen, in der rechten die Geissenrute schwingend. Das Heidi und die Geissen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen steilen Felsen hinan.
An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine Knie gelegt und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen und die Base Dete herankletterten; denn die letztere war nach und nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Guten Abend, Grossvater!“
„So, so, wie ist das gemeint?“ fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern; denn der Grossvater mit dem langen Bart und den dichten grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base samt dem Peter herangekommen, der eine Weile stillestand und zusah, was sich da ereigne.
„Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi“, sagte die Dete hinzutretend, „und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen; denn seit es jährig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.“
„So, was soll das Kind bei mir?“ fragte der Alte kurz. „Und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannst geben mit deinen Geissen, du bist nicht zu früh gekommen; nimm meine mit!“
Der Peter gehorchte sofort und verschwand; denn der Öhi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
„Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi“, gab die Dete auf seine Frage zurück. „Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre hindurch; es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun.“
„So“, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?“
„Das ist dann Eure Sache“, warf die Dete zurück; „ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind. Wenn Ihr’s nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr’s zu verantworten, wenn’s verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, Euch noch etwas aufzuladen.“
Die Dete hatt kein recht gutes Gewissen bei der Sache; darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden. Er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich, dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: „Mach, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich sobald nicht wieder!“ Das liess sich die Dete nicht zweimal sagen. „So lebt wohl, und du auch, Heidi“, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab; denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im