Frankenstein. Mary Shelley
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Ich lief so eine Zeitlang dahin und versuchte durch körperliche Anstrengung die Last, die auf mein Gemüt drückte, zu erleichtern. Ich überquerte Straßen ohne klare Vorstellung, wo ich mich befand oder was ich tat. Mein Herz klopfte vor Angst; ich eilte in unregelmäßigem Tempo weiter und wagte nicht, um mich zu blicken:
»Wie einer, der auf ödem Weg
mit Angst und Grausen geht,
sich einmal wendet, weitereilt,
sein Haupt dann nie mehr dreht,
dieweil erkennt den grimmen Feind,
der hinter ihm schon steht.« 1
Schließlich langte ich gegenüber der Gaststätte an, bei der die verschiedenen Eil- und Postkutschen gewöhnlich haltmachen. Hier blieb ich stehen; warum, weiß ich nicht. Ich verweilte einige Minuten und blickte auf eine Kutsche, die vom anderen Ende der Straße her auf mich zufuhr. Als sie näher kam, bemerkte ich, daß es die Schweizer Eilpostkutsche war; sie hielt genau vor mir, die Tür öffnete sich, und ich sah niemand anderen als Henry Clerval. Er sprang sofort heraus, als er mich erkannte. »Mein lieber Frankenstein«, rief er aus, »wie froh bin ich, dich zu sehen! Das nenne ich einen glücklichen Zufall, daß du gerade in dem Augenblick meiner Ankunft hier bist!«
Meine Freude, Clerval zu sehen, war durch nichts zu übertreffen. Seine Gegenwart brachte meinen Gedanken den Vater und Elisabeth sowie alle jene häuslichen Bilder zurück, die meiner Erinnerung teuer waren. Ich ergriff seine Hand und vergaß für einen Augenblick Schrecken und Unglück; ich fühlte plötzlich und zum erstenmal seit vielen Monaten wieder Ruhe und heiteren Frieden. Ich hieß meinen Freund also aufs herzlichste willkommen; dann gingen wir zu meinem Kolleghaus. Clerval sprach einige Zeit über unsere beiderseitigen Freunde und über sein großes Glück, nun endlich die Erlaubnis für das Studium in Ingolstadt zu haben.
»Du wirst dir gut vorstellen können«, sagte er, »wie schwierig es war, meinen Vater zu überzeugen, daß die edle Kunst der Buchhaltung nicht alles nötige Wissen umfaßt. Ich glaube wirklich, daß ich ihn letzten Endes ungläubig zurückließ, denn seine immerwährende Antwort auf meine nimmermüden Bitten war die des holländischen Lehrers im ›Vikar von Wakefield‹: ›Ich beziehe zehntausend Florins im Jahr ohne Griechisch, ich esse nahrhaft ohne Griechisch.‹ Seine Zuneigung für mich siegte aber schließlich über seine Abneigung gegen die Bildung, und er gestand mir zu, eine Entdeckungsreise in das Land des Wissens zu unternehmen.«
»Ich freue mich sehr, dich zu sehen! Erzähle mir doch, wie es meinem Vater, meinen Brüdern und Elisabeth geht.«
»Ihr Befinden ist sehr gut, sie sind glücklich, wenn auch etwas beunruhigt, da sie von dir so selten hören. Nebenbei möchte ich dich um ihretwillen ein wenig kapiteln! – Aber, mein lieber Frankenstein«, fuhr er fort und blieb kurz stehen, um mir voll ins Gesicht zu blicken, »ich bemerkte vorhin gar nicht, wie schlecht du aussiehst, ganz dünn und blaß. Man könnte meinen, du hättest mehrere Nächte durchwacht.«
»Damit hast du richtig vermutet. In letzter Zeit habe ich mich mit einer Arbeit sehr abgeplagt und mir nicht genügend Ruhe gegönnt. Ich hoffe aber – und ich hoffe es aufrichtig –, daß diese Tätigkeit nun beendet ist und ich endlich frei bin.«
Ich zitterte am ganzen Leib. Ich scheute zurück, an die Ereignisse der vergangenen Nacht zu denken, und noch viel weniger durfte ich darauf anspielen. Ich schritt schnell aus, und bald erreichten wir mein Kolleghaus. Ich grübelte unaufhörlich, und wahre Schauer durchfuhren mich bei dem Gedanken, daß die Kreatur, die ich in meiner Wohnung zurückgelassen hatte, dort noch in voller Lebensgröße herumspaziere. Ich fürchtete mich, dieses Ungeheuer zu sehen; aber noch viel mehr fürchtete ich, daß Henry es sehen würde. Ich bat ihn deshalb, einige Minuten unten an der Treppe zu warten. Ich hetzte zu meinem Zimmer hinauf. Meine Hand lag schon auf der Türklinke, da überrieselte es mich kalt. Ich hielt ein undsammelte meine Kräfte. Dann stieß ich die Tür mit Wucht auf, wie es Kinder zu tun pflegen, wenn sie ein Gespenst auf der anderen Seite vermuten. Nichts rührte sich. Ich schritt furchtsam hinein: die Wohnung war leer. Mein Schlafzimmer beherbergte ebenfalls keinen häßlichen Gast. Ich konnte es kaum fassen, daß mir ein solcher Glücksfall beschieden war. Als ich mich vergewissert hatte, daß mein Feind wirklich entflohen war, klatschte ich vor Freude in die Hände und rannte zu Clerval hinab. Wir stiegen zusammen zu meiner Wohnung hinauf, und der Diener servierte alsbald das Frühstück. Aber ich vermochte mich einfach nicht zu beherrschen. Nicht nur die Freude hatte mich überwältigt, sondern ich fühlte, wie mein Körper infolge eines Übermaßes an Reizbarkeit bebte und mein Puls fiebrig klopfte. Ich hielt es auch nicht einen Augenblick lang auf demselben Platz aus. Ich sprang über die Stühle, klatschte in die Hände und lachte schallend. Clerval schrieb meine ungewöhnliche Stimmung anfangs der Freude über seine Ankunft zu; als er mich aufmerksamer betrachtete, bemerkte er eine Wildheit in meinen Augen, die er sich nicht erklären konnte. Mein lautes, unbeherrschtes und herzloses Gelächter versetzte ihn allmählich in Erstaunen und Schrecken.
»Mein lieber Viktor«, rief er, »was ist um Gottes willen in dich gefahren? Lache nicht auf diese Weise! Du mußt krank sein! Was ist denn daran schuld?«
»Frage mich nicht«, rief ich und bedeckte meine Augen mit den Händen, denn es war mir, als sähe ich das fürchterliche Gespenst in das Zimmer hereingleiten; »er allein kann dir darüber berichten! Ach, rette mich, rette mich!« Ich bildete mir nämlich ein, der Unhold ergriffe mich; ich schlug wild um mich und stürzte in einem Anfall nieder.
Armer Clerval! Was mag er empfunden haben? Ein Wiedersehen, das er mit solcher Freude erwartet hatte, verwandelte sich derart seltsam in Bitterkeit. Allerdings war ich kein Zeuge seines Schmerzes, denn mich umfing eine Ohnmacht, und lange, lange Zeit kam ich nicht mehr zu mir.
Dies war der Anfang eines nervösen Fiebers, das mich für mehrere Monate niederwarf. Die ganze Zeit über war Henry mein einziger Pfleger. Später erfuhr ich, daß er meinen Angehörigen das Ausmaß meines Leidens verheimlichte, um ihnen Kummer zu ersparen. Er handelte so mit Rücksicht auf das vorgeschrittene Alter meines Vaters und dessen Untauglichkeit für eine weite Reise, und auf Elisabeth, die meine Krankheit sehr unglücklich gemacht hätte. Die Hoffnung auf meine Genesung bestärkte seine Überzeugung, daß er ihnen dadurch nicht schade, sondern den besten Dienst erweise. Niemand wäre mir ein freundlicherer und aufmerksamerer Pfleger gewesen, als er es war.
Aber in Wirklichkeit war ich sehr krank. Gewiß hätte mich nichts außer der grenzenlosen und nimmermüden Hingabe meines Freundes dem Leben zurückgegeben. Die Gestalt des Unholds, dem ich Leben verliehen hatte, stand immer vor meinen Augen, und meine Phantasien drehten sich ununterbrochen um ihn. Zweifellos war Henry über mein Gerede erstaunt. Er glaubte zuerst an irre Auswüchse meines verstörten Geistes; doch die Hartnäckigkeit, mit der ich immer wieder zu demselben Gegenstand zurückkehrte, überzeugte ihn, daß meine Krankheit ihren Ursprung in einem ungewöhnlichen und schrecklichen Ereignis habe.
Nur allmählich und unter häufigen Rückfällen, die meinen Freund beunruhigten und schmerzten, erholte ich mich. Ich erinnere mich daran, wie ich zum erstenmal wieder fähig war, äußere Gegenstände mit einer Art Freude wahrzunehmen. Ich sah, daß die abgefallenen Blätter verschwunden waren, und daß an den Bäumen, die mein Fenster beschatteten, die jungen Knospen hervorsprossen. Es war ein unvergleichlicher Frühling; die Jahreszeit trug viel zu meiner Genesung bei. Empfindungen der Freude und der Zuneigung