Frankenstein. Mary Shelley

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Frankenstein - Mary Shelley

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aber ehe der vereinbarte Tag herankam, ereignete sich das erste Unglück meines Lebens, gleichsam ein Omen meines zukünftigen Elends.

      Elisabeth war am Scharlachfieber erkrankt; sie schwebte in der größten Gefahr. Während ihrer Krankheit überredeten wir meine Mutter, sie nicht selbst zu pflegen. Zuerst hatte sie unseren Bitten nachgegeben; kaum hörte sie jedoch, das Leben ihres Lieblings sei bedroht, als sie ihre Angst, welche sie nicht länger zu beherrschen vermochte, zum Krankenbett trieb. Ihre wachsame Sorge besiegte die Tücken des Fiebers; Elisabeth genas. Um so teurer bezahlte ihre Retterin die Folgen der eigenen Unklugheit. Am dritten Tage erkrankte meine Mutter; sogleich zeigten sich alarmierende Symptome, und die Blicke ihrer medizinischen Betreuer prophezeiten den schlimmsten Ausgang. Noch auf dem Totenbett verlor diese würdigste Frau ihre Tapferkeit und Güte nicht. Sie legte Elisabeths Hände in die meinen. »Meine Kinder«, sagte sie, »meine stärksten Hoffnungen auf künftiges Glück barg die Aussicht auf eure Verbindung. Sie wird nun der Trost eures Vaters sein. Meine liebe Elisabeth, tritt du an meine Stelle in der Familie. Wie schmerzt es mich, daß ich euch verlassen muß! Wer so wie ich geliebt wird, dem fällt das Scheiden schwer. Doch diese Gedanken geziemen mir nicht. Ich will mich fröhlich dem Tod hingeben und der Hoffnung, euch in einer anderen Welt wiederzusehen.«

      Sie starb ruhig; ihr Gesicht drückte noch im Tod Liebe aus. Es erübrigt sich, die Gefühle jener zu beschreiben, deren teuerste Bande durch diesen unersetzlichen Verlust zerrissen werden; die Öde breitet sich in den Seelen aus, und die Verzweiflung prägt die Gesichter. Lange währt es, ehe das Gemüt einsieht, daß sie (die wir täglich sahen und deren Dasein ein Teil unseres Selbst zu sein schien) für immer von uns gegangen ist, daß der Glanz geliebter Augen erlosch, der Klang einer vertrauten, dem Ohr so lieben Stimme verstummte, um nie mehr vernehmbar zu sein. Das sind die Empfindungen der ersten Tage; wenn der Lauf der Zeit die Wirklichkeit des Unglücks bestätigt, beginnt die wahre Bitterkeit des Leids. Doch wer hat noch nicht diese rauhe Hand verspürt? Warum soll ich einen Kummer beschreiben, den alle empfinden müssen? Allmählich kommt die Zeit, da der Schmerz eher wohltuend als quälend ist. Das Lächeln, das sich auf die Lippen drängt, wird nicht mehr für eine Entweihung der Trauer gehalten. Meine Mutter war tot, aber wir mußten weiterhin unsere Pflichten erfüllen und unseren Weg mit den uns Verbliebenen fortsetzen; wir mußten uns glücklich schätzen, daß der Schnitter nicht alle erfaßt hatte.

      Meine Abreise nach Ingolstadt, die durch diese Ereignisse verschoben worden war, wurde von neuem geplant. Mein Vater räumte mir eine Frist von einigen Wochen ein. Es schien mir eine Entweihung zu sein, wenn ich so bald die dem Tod verwandte Ruhe des trauernden Hauses verließ und ins Dickicht des Lebens eilte. War der Kummer mir auch neu, so beunruhigte er mich darum nicht weniger. Ich wollte ungern den Anblick der mir Gebliebenen missen; vor allem wünschte ich meine holde Elisabeth getröstet zu sehen.

      Sie verheimlichte übrigens ihren Schmerz und bemühte sich, die Trösterin für uns alle zu sein. Zuversichtlich blickte sie ins Leben, erfüllte ihre Aufgaben mit entschlossenem Eifer und widmete sich ihrem Oheim und ihren Vettern. Sie wirkte bezaubernder denn je und ließ uns den erlittenen Verlust fast vergessen.

      Schließlich nahte der Tag meiner Abreise. Clerval verbrachte den letzten Abend bei uns. Er hatte seinen Vater um die Erlaubnis gebeten, mich begleiten und mein Studienkollege werden zu dürfen, aber ohne Erfolg. Sein Vater war nämlich ein engstirniger Händler, der in den Wünschen und Ambitionen seines Sohnes nur Faulheit und Verderbnis sah. Henry war zutiefst unglücklich, weil er von einer freizügigen Bildung ausgeschlossen werden sollte. Er sagte wenig; aber aus seinen entzündeten Augen und seinem lebhaften Blick sprach der unterdrückte, aber feste Entschluß, nicht an die Kümmerlichkeiten des Händlerdaseins gekettet zu bleiben.

      Wir saßen lange beisammen, da wir nicht die Kraft zu einem Lebewohl fanden. Endlich schlug die Trennungsstunde. Wir zogen uns zur Nachtruhe zurück, wenn auch jeder diesen dürftigen Vorwand durchschaute. Als ich im Morgengrauen zur Kutsche ging, waren alle da: mein Vater, um mich nochmals zu segnen; Clerval, um meine Hand zu drücken; meine Elisabeth, die mich bat, ihr oft zu schreiben, und ihrem Spielkameraden und Jugendfreund die letzten weiblichen Gefälligkeiten erwies.

      Ich warf mich in die Kutsche und überließ mich schwermütigem Sinnieren. Stets hatten mich liebenswerte Gefährten umgeben, die sich gegenseitig Freude bereiteten; nun war ich allein. Auf der Universität, wohin ich eben fuhr, würde nur ich selbst mir Freund und Beschützer sein. Mein Leben hatte sich bisher in einem bemerkenswert abgeschlossenen und häuslichen Rahmen abgespielt. Meine unbesiegbare Abneigung gegen neue Gesichter rührte davon her. Ich liebte meine Brüder, Elisabeth und Clerval, denn das waren »alte, vertraute Gesichter«. Für den Umgang mit Fremden hielt ich mich nicht begabt.

      So sann ich, als meine Fahrt begann. Im weiteren Verlauf besserte sich meine Stimmung, und meine Hoffnungen wuchsen. Ein leidenschaftliches Verlangen nach Wissen brannte in mir. Es war mir zu Hause oft schwergefallen, während meiner Jugend an einen Platz gebunden zu sein; ich hatte mich danach gesehnt, in die Welt zu wandern und unter anderen Menschen zu weilen. Nun erfüllten sich meine Wünsche, und ich wäre töricht gewesen, darüber Bedauern zu empfinden.

      Auf meiner Reise nach Ingolstadt verfügte ich über genug Muße für diese und viele andere Überlegungen; sie dauerte nämlich sehr lang. Endlich erblickte ich den hohen weißen Turm der Stadt. Nachdem ich ausgestiegen war, wurde ich sogleich zu meiner Behausung geleitet, wo ich den Abend nach meinen eigenen Absichten zubringen konnte.

      Am nächsten Morgen gab ich meine Empfehlungsschreiben ab und besuchte einige der führenden Professoren. Der Zufall (oder eher eine ungünstige Fügung, ein zerstörerischer Zug, der seit dem Augenblick, da meine widerstrebenden Schritte sich aus dem väterlichen Hause entfernten, einen allmächtigen Einfluß auf mich gewann) führte mich zuerst zu Herrn Krempe, Professor der Naturphilosophie. Er war ein linkischer, aber mit den Geheimnissen seiner Wissenschaft vertrauter Mann. Er stellte mir mehrere Fragen, die meinen Stand in den Wissenszweigen der Naturphilosophie betrafen. Ich antwortete nachlässig und erwähnte auch, eigentlich aus Verachtung, meine Alchimisten als mir bekannte Gewährsleute.

      Der Professor zeigte sich erstaunt. »Haben Sie«, sagte er, »tatsächlich Ihre Zeit damit verbrächt, solchen Unsinn zu studieren?« Ich bejahte. »Jede Minute«, fuhr Professor Krempe freundlich fort, »jeder Augenblick, den Sie an diese Bücher verschwendeten, ist völlig verloren. Sie haben Ihr Gedächtnis mit veralteten Systemen und nutzlosen Namen belastet. Großer Gott! In welch verlassenem Lande haben Sie denn gelebt? Hat kein Mensch Sie freundlicherweise darauf hingewiesen, daß diese von Ihnen gierig aufgesogenen Phantastereien an die tausend Jahre alt und unwiderruflich vermodert sind? Ich hätte nie erwartet, in diesem aufgeklärten und wissenschaftlichen Zeitalter einen Schüler von Albertus Magnus und Paracelsus zu finden. Mein lieber Herr, Sie müssen Ihre Studien neu beginnen.«

      Während seiner Rede trat er beiseite und schrieb eine Liste über verschiedene Bücher, die naturwissenschaftliche Themen behandelten und die ich mir beschaffen sollte, zusammen. Er verabschiedete mich, nachdem er erwähnt hatte, daß er zu Anfang der nächsten Woche eine Vorlesungsreihe über allgemeine Naturphilosophie beginne und daß Herr Waldmann, ein Kollege, an den Tagen, an denen er nicht lese, Chemie lehren werde.

      Ich erwähnte bereits, daß ich seit längerem jene Autoren, die der Professor verworfen hatte, als nutzlos betrachtete. Ich war also nicht enttäuscht und darum auch nicht geneigt, die alten Studien wieder aufzunehmen. Professor Krempe nahm mich zwar keineswegs im voraus für seine Ziele ein, denn er war ein kleiner gedrungener Mann mit barscher Stimme und abweisendem Gesicht. Ich habe auf fast allzu philosophische Manier die Ergebnisse meiner Jugendentwicklung dargestellt. Im Knabenalter war ich mit den von der modernen Naturwissenschaft eröffneten Aussichten nicht zufrieden gewesen. Meine konfusen Ideen, die man meiner Jugend und der Ermangelung eines geeigneten Lehrers zuschreiben muß, hatten mich die Stufen des Wissens zeitlich rückwärts geleitet. Die Entdeckungen der jüngsten Forscher hatte ich für die Träume vergessener Alchimisten eingetauscht. Außerdem verachtete ich die praktische Seite der modernen

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