Das Erbe des Professors Pirello. Arno Alexander
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Auch der Kopf des Ministerialrats de Saint-Roch lächelte aus den weißen Kissen. Aber dieser verfallene Greisenkopf trug allzudeutlich die Zeichen, die ein erfahrener Arzt nicht mißversteht. Innerlich stellte sich für den Professor eine bestürzende Parallele zu diesem intelligenten, feurigen, jetzt so veränderten Gesicht mit der stark vorspringenden Nase her: Clemenceaus Totenmaske.
Aber der Arzt beherrschte sich gut. Fast gutgelaunt zog er einen Stuhl neben das Krankenbett. „Nun, mein lieber Patient, wie haben wir es überstanden?“
Er hatte selbst von diesem müden Mann eine schnelle Antwort erwartet, denn Saint Roch sprach sein Leben lang schnell und temperamentvoll. Aber jetzt stellten sich um die Augen des Kranken ganz allmählich die Fältchen eines fast belustigten Lächelns ein, und dann kamen leise, einzeln, tropfenhaft, sehr klare Worte: „Das — frage — ich — Sie!“
Riquet nahm sich zusammen. Beinahe etwas laut gab er Antwort: „Glänzend. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß ein Mann Ihres Alters durch einen schweren Eingriff so wenig beeinträchtigt wird.“
Der Ministerialrat antwortete nicht und schloß die Augen. Es war hier etwas, das auch den Arzt schweigen hieß. Obwohl Riquet hier der Gesunde, Kräftige — und obwohl der alte Mann im Bett der Schwache, Todkranke war, hatte Saint-Roch ganz unbestreitbar die Herrschaft in den Minuten dieses Gesprächs. Der Arzt gehorchte. Er wartete. Dann sagte Saint-Roch, ohne die Augen zu öffnen:
„Ich habe Ihnen eine Frage zu stellen. Riquet, ich muß von Ihnen dreifach eine genaue Antwort darauf verlangen: als Mensch, als Vater und als Beamter. Im übrigen bin ich keine Memme. Die Frage lautet —“
Er machte eine kleine Pause und schlug die Augen auf: „Darf ich rauchen?“
Riquet verstand sofort. Die innere Eleganz dieses alten Ritters frappierte ihn aufs neue. Noch nie war einem Arzt die Frage aller Fragen auf eine so rücksichtsvolle Art gestellt worden. Es war unsinnig, einem Halbtoten, dessen Leben nur noch nach Stunden zählte, eine Zigarette zu verbieten. Und es war weder recht noch gut, einem Mann wie Saint-Roch die Wahrheit zu verbergen. Er wußte sie schon.
Riquet senkte den Kopf. „Ja, bitte!“ sagte er rauh.
Das Lächeln verschwand nicht aus dem Gesicht des Kranken. Er brauchte die Sekunden der Stille wohl nur, um neue Kraft zum Sprechen zu finden.
„Bitte schicken Sie mir in einer Stunde meinen Notar. Danach kommen Sie mit meiner Tochter zu mir. Gegen Abend schicken Sie den Geistlichen. Ich danke Ihnen, Professor!“
Der Ministerialrat schloß die Augen. Riquet spürte, daß der Kranke die Anwesenheit des Arztes nicht mehr empfand. Er hatte auch für die letzten Stunden seine Anweisungen mit der gewohnten Sicherheit und Klarheit gegeben und wünschte keine weiteren Kommentare. Riquet erhob sich langsam und ging hinaus.
*
Das tausendjährige Paris hat mehr Gräber als Wohnungen, aber es ist zu lebensvoll, um sich mit dem Tode lange aufzuhalten. Wer durch seinen Tod für eine Stunde zum Gespräch der Stadt werden soll, muß schon ein Filmstar oder ein Nationalheld sein. Den temperamentvollen Ministerialrat de Saint-Roch hatten nicht viele gekannt. Aber als er gestorben war, entdeckten die Pariser plötzlich, daß er ein Held war, und betrauerten ihn. Der Reichtum dieses Mannes, der jetzt erst bekannt wurde, beeindruckte die Pariser nicht einmal so sehr; die Gesellschaften, deren Aufsichtsräten er angehört hatte, widmeten ihm Anzeigen, die allein ein kleines Vermögen kosteten. Aber es erschienen Artikel darüber, daß hier der Letzte eines alten Geschlechts dahingegangen war. Sein Name stand schon in den Annalen der Kreuzzüge, und das begeisterte Paris. Er wurde beigesetzt in der Familiengruft auf dem Montmartre-Friedhof, wo Alexander Dumas und mancher andere Liebling Frankreichs liegt und wo man ohne Erbbegräbnis längst schon keinen Platz mehr haben kann. Er hinterließ eine junge und schöne Tochter. Und es war noch eine besonders ergreifende Geschichte für sich, daß der alte Ritter ausgerechnet unter dem Skalpell seines zukünftigen Schwiegersohns, des Professors Jaques Riquet, das Todesurteil des Geschicks hatte hinnehmen müssen. Das alles zusammen machte Louis de Saint-Roch noch nach dem Tode für einen Tag zum Helden aller Pariser, was bei diesem unsentimentalen Volk mancher noch so berühmte Mann nicht zu Lebzeiten erreicht.
Für Nicole de Saint-Roch aber war diese unvermutete Anteilnahme der Öffentlichkeit eine fast unerträgliche Belastung. Die Neugier des unübersehbaren Trauergefolges, die Zudringlichkeit der Pressefotografen, ihre trotz aller Ablehnung wiederholten Bitten um ein Interview brachten das Mädchen zur Verzweiflung. Sie erschien auf dem Friedhof am Arm des Professors, stumm und starr wie eine Marionette, tief verschleiert und tränenlos. Es war ihr nicht möglich, ihren Schmerz vor diesen Menschen zu zeigen.
Dann bat sie Riquet, sie nach Hause zu fahren. Dort sah er erstaunt, daß sie ihre Koffer hatte packen lassen. Sie sagte:
„Jaques, die leere Wohnung und das alles — ich kann nicht mehr. Ich überlasse alles der Wirtschafterin. Wenigstens für eine Woche —“
„Wohin, Nicole?“
„Vaters Häuschen in Cannes.“
Er nickte. Im Grunde war er erleichtert, denn auch er hätte nicht gewußt, wie er sie in Paris über die bittersten ersten Tage hinwegbringen sollte. Er wußte daß ihr Vater ein hübsches Haus in Cannes, an der Mittelmeerküste, besessen hatte. Er wußte auch, daß sie dort durch das Gärtnerehepaar vorzüglich betreut sein würde.
„Du bist sehr klug, Nicole“, sagte er und brachte sie an die Bahn.
*
Zwei Tage nach der Beisetzung des Ministerialrates starrte ein junger Assistenzarzt in Riquets Klinik kopfschüttelnd in ein zylinderförmiges Standgefäß. In dem Glas schwamm in einer Flüssigkeit, aufgehängt an einem Goldfaden, ein Stückchen Gewebe.
Der Arzt nahm eine starke Lupe zu Hilfe und betrachtete den kleinen grauen Körper eingehend. Dann stand er rasch auf, nahm das Glas mit und lief hinüber in den Vorraum zu Riquets Privatraum.
„Ist der Chef da?“
Überrascht sah die Sekretärin von ihren Krankenberichten auf.
„Was haben Sie denn da entdeckt?“ fragte das Mädchen neugierig.
„Ein Barthaar des Staatspräsidenten“, sagte der Arzt herzlos, „es gedeiht ausgezeichnet.“ Dann stürmte er in das Zimmer seines Professors.
Riquet sah ihn fragend, aber nicht ungnädig entgegen. „Na?“ fragte er.
Anstelle einer mündlichen Antwort setzte der junge Mann das Standglas dem Professor vor die Nase, mitten auf das Aktenstück, das auf dem Schreibtisch lag. In seinen Augen stand so etwas wie ein Triumphblitz.
Professor Jaques Riquet schob die Brille auf die Stirn und beugte sich dem Glas zu. Zuerst entzifferte er die Zeilen auf dem angeklebten Etikett. „Saint-Roch?“ sagte er verwundert und runzelte die Stirn. Dann betrachtete er den Inhalt des Glases.
Eine halbe Minute war es totenstill.
Dann fuhr der Professor mitsamt seinem Stuhl heftig zurück. „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Gewebestück noch hierzubehalten?“ Seine Stimme klang streng. Aber der Arzt fühlte sich jetzt kühn. Er überlegte nur, ob er jetzt „Der Herr Ministerialrat“