Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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181 Krisentheorien. In: Die Neue Zeit. 20. Jg., Zweiter Band, S. 116. Wenn K. Kautsky durch die Fortsetzung des Schemas der erweiterten Reproduktion Tugan ziffernmäßig beweist, daß die Konsumtion unbedingt wuchsen müsse, und zwar "genau in demselben Verhältnis wie die Wertmasse der Produktionsmittel", so ist dazu zweierlei zu bemerken. Erstens ist dabei von Kautsky, wie auch von Marx in seinem Schema, der Fortschritt der Produktivität der Arbeit nicht berücksichtigt, wodurch die Konsumtion relativ größer erscheint als der Wirklichkeit entsprechen würde. Zweitens aber ist das Wachstum der Konsumtion, auf das Kautsky hier verweist, selbst Folge, Ergebnis der erweiterten Reproduktion, nicht ihre Grundlage und ihr Zweck, es ergibt sich in der Hauptsache aus dem gewachsenen variablen Kapital, aus der wachsenden Verwendung neuer Arbeiter. Die Erhaltung dieser Arbeiter kann aber nicht als Zweck und Aufgabe der Erweiterung der Reproduktion betrachtet werden, sowenig übrigens wie die zunehmende persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse. Der Hinweis Kautskys schlägt also wohl die Spezialschrulle Tugans zu Boden: den Einfall, eine erweiterte Reproduktion bei absoluter Abnahme der Konsumtion zu konstruieren; er geht hingegen nicht auf die Grundfrage des Verhältnisses von Produktion zur Konsumtion vom Standpunkte des Reproduktionsprozesse ein. Wir lesen zwar an einer anderen Stelle desselben Aufsatzes: "Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bilden einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit anwachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts der Fall war, erhält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholt. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgt, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende. Dies in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten allgemein angenommen, von Marx begründete Krisentheorie." (l.c., S. 80.) Kautsky befaßt sich aber damit nicht, die Auffassung von der Realisierung des Gesamtprodukts mit dem .Marxschen Schema der erweiterten Reproduktion in Einklang zu bringen, vielleicht aus dem Grunde, weil er, wie auch das Zitat zeigt, das Problem ausschließlich unter dem Gesichtswinkel dar Krisen, d.h. vom Standpunkte des gesellschaftlichen Produkts als einer unterschiedslosen Warenmasse in ihrer Gesamtmenge, nicht unter dem Gesichtswinkel seiner Gliederung im Reproduktionsprozeß, behandelt, An diese letztere Frage tritt anscheinend näher L. Boudin heran, der in seiner glänzenden Kritik desselben Tugan-Baranowski die Formulierung gibt: "Das in den kapitalistischen Ländern produzierte Mehrprodukt hat - mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen - nicht darum die Räder den Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären verteilt wurden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen geworden ist, sondern deshalb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun in Baumwoll- oder Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von den Baumwoll- zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine ganz andere, als Tugan-Baranowski ihr beilegt. Sie zeigt den Anfang vom Ende des Kapitalismus. Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für den Kapitalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitalistischen Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom Kapitalismus standen und deshalb als Abladestelle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen. Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren, genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll- und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie nicht nur aufhören, eine Aufnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer unterbringen können." (Mathematische Formeln gegen Karl Marx. In: Die Neue Zeit, 25 Jg. Erster Band, S. 604.) Baudin gibt hier sehr wichtige Ausblicke auf die großen Verknüpfungen in der Entwicklung des internationalen Kapitalismus. Weiter kommt er in diesem Zusammenhang logisch auf die Frage des Imperialismus. Leider spitzt er seine scharfe Analyse zum Schluß nach einer falschen Seite zu, indem er die ganze militärische Produktion und das System der internationalen Kapitalausfuhr nach nichtkapitalistischen Ländern unter den Begriff der "Verschwendung" bringt. - Im übrigen ist festzustellen, daß Boudin, genau wie Kautsky, das Gesetz des rascheren Wachstums der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zur Abteilung der Lebensmittel für eine Täuschung Tugan-Baranowskis hält.
182 "Abgesehn von Naturbedingungen, wie Fruchtbarkeit des Bodens usw. und vom Geschick unabhängig und isoliert arbeitender Produzenten, das sich jedoch mehr qualitativ in der Güte als quantitativ in der Masse des Machwerks bewährt, drückt sich der gesellschaftliche Produktivgrad der Arbeit aus im relativen Größenumfang der Produktionsmittel, welche ein Arbeiter, während gegebener Zeit mit derselben Anspannung von Arbeitskraft, in Produkt verwandelt. Die Masse der Produktionsmittel, womit er funktioniert, wächst mit der Produktivität seiner Arbeit. Diese Produktionsmittel spielen dabei eine doppelte Rolle. Das Wachstum der einen ist Folge, das der andren Bedingung der wachsenden Produktivität der Arbeit. Z.B. mit der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit und der Anwendung von Maschinerie wird in derselben Zeit mehr Rohmaterial verarbeitet, tritt also größere Masse von Rohmaterial und Hilfsstoffen in den Arbeitsprozeß ein. Das ist die Folge der wachsenden Produktivität der Arbeit. Andrerseits ist die Masse der angewandten Maschinerie, Arbeitsviehs, mineralischen Düngers, Drainierungsröhren usw. Bedingung der wachsenden Produktivität der Arbeit. Ebenso die Masse der in Baulichkeiten, Riesenöfen, Transportmitteln usw. konzentrierten Produktionsmittel. Ob aber Bedingung oder Folge, der wachsende Größenumfang der Produktionsmittel im Vergleich zu der ihnen einverleibten Arbeitskraft drückt die wachsende Produktivität der Arbeit aus. Die Zunahme der letzteren erscheint also in der Abnahme der Arbeitsmasse verhältnismäßig zu der von ihr bewegten Masse von Produktionsmitteln oder in der Größenabnahme des subjektiven Faktors des Arbeitsprozesses, verglichen mit seinen objektiven Faktoren." (Das Kapital, Bd. I, S. 586.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 650/651.] Und noch an einer anderen Stelle: "Man hat früher gesehn, daß mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, also auch mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise - welche die gesellschaftliche Produktivität der Arbeit mehr entwickelt als alle früheren Produktionsweisen -, die Masse der in der Form von Arbeitsmitteln dem Prozeß ein für allemal einverleibten und stets wiederholten, während längrer oder kürzrer Periode in ihm fungierenden Produktionsmittel (Gebäude, Maschinen etc.) beständig wächst und daß ihr Wachstum sowohl Voraussetzung wie Wirkung der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ist. Das nicht nur absolute, sondern relative Wachstum des Reichtums in dieser