Maigret und die verrückte Witwe. Georges Simenon

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Maigret und die verrückte Witwe - Georges  Simenon Georges Simenon

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       Der 72. Fall

      Georges Simenon

      Maigret und die verrückte Witwe

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Claire Schmartz

      Kampa

      1

      Links vom Portal am Quai des Orfèvres hielt der Polizist Picot Wache, rechts stand sein Kollege Loutille. Es war etwa zehn Uhr morgens. An diesem Maitag tauchte die Frühlingssonne Paris in Pastellfarben.

      Als Picot sie erblickte, maß er ihr keine Bedeutung bei: eine dürre, kleine alte Frau in einem stahlgrauen Kleid, mit einem weißen Hut und weißen Baumwollhandschuhen. Sie ging leicht gebückt vom Alter, und ihre Beine waren sehr dünn.

      Ob sie ein Einkaufsnetz oder eine Handtasche bei sich hatte? Er erinnerte sich nicht mehr. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie blieb ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Gehweg stehen und betrachtete die aufgereihten schwarzen Autos im Hof der Kriminalpolizei.

      Es kommt häufig vor, dass Neugierige, vor allem Touristen, einen Blick auf das Gebäude der Kriminalpolizei werfen. Die Frau ging zum Portal und musterte den Polizisten von Kopf bis Fuß, dann machte sie kehrt und verschwand in Richtung Pont-Neuf.

      Picot stand auch am nächsten Morgen Wache, und fast zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor tauchte sie wieder auf. Sie zögerte eine Weile, doch schließlich ging sie auf ihn zu und fragte:

      »Hier hat doch Kommissar Maigret sein Büro, nicht wahr?«

      »Ja, Madame. Im ersten Stock.«

      Sie blickte hoch und betrachtete die Fenster. Sie hatte ein sehr hübsches, fein gezeichnetes Gesicht, und ihre hellgrauen Augen wirkten immerzu erstaunt.

      »Danke, Herr Polizist.«

      Sie trippelte davon, und tatsächlich hatte sie ein Einkaufsnetz dabei, was vermuten ließ, dass sie im Viertel wohnte.

      Am nächsten Tag hatte Picot frei. Sein Stellvertreter achtete nicht auf die kleine alte Frau, die sich in den Hof stahl. Sie strich dort einen Augenblick umher, ging dann durch die Tür links und stieg die Treppe hinauf. Der lange Flur im ersten Stock schüchterte sie ein, sie wirkte ein wenig verloren. Der alte Joseph, der Bürodiener, trat auf sie zu und fragte freundlich:

      »Suchen Sie etwas?«

      »Das Büro von Kommissar Maigret.«

      »Möchten Sie den Kommissar sprechen?«

      »Ja. Deswegen bin ich hier.«

      »Haben Sie eine Vorladung?«

      Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

      »Braucht man denn eine?«

      »Kann ich ihm etwas ausrichten?«

      »Ich muss ihn unbedingt persönlich sprechen. Es ist äußerst wichtig.«

      »Dann füllen Sie diesen Meldezettel aus, und ich werde mich erkundigen, ob der Kommissar Sie empfangen kann.«

      Sie setzte sich an den mit grünem Stoff bespannten Tisch. Die Büros waren gerade frisch renoviert worden, und es roch stark nach Farbe. Insgesamt fand sie die Stimmung für eine Behörde eher heiter.

      Den ersten Meldezettel zerriss sie. Sie schrieb langsam, wog jedes Wort ab, unterstrich sogar einige Wörter. Auch der zweite Zettel wanderte in den Papierkorb, dann der dritte, und erst mit dem vierten schien sie zufrieden zu sein. Sie wandte sich an den alten Joseph:

      »Sie übergeben ihm das persönlich, nicht wahr?«

      »Ja, Madame.«

      »Er ist wohl sehr beschäftigt?«

      »Ja, sehr.«

      »Glauben Sie, er empfängt mich?«

      »Das weiß ich nicht, Madame.«

      Sie war über achtzig, vielleicht sechs- oder siebenundachtzig, und wog sicher nicht mehr als ein kleines Mädchen. Ihr Körper war mit den Jahren zart und schmal geworden, ihre Haut durchsichtig. Sie lächelte schüchtern, als wollte sie den guten Joseph verführen.

      »Tun Sie bitte, was Sie können. Es ist sehr wichtig für mich.«

      »Nehmen Sie doch Platz, Madame.«

      Er ging zu einer Tür und klopfte. Maigret war in einer Besprechung mit Janvier und Lapointe, die beide standen. Durch das weit geöffnete Fenster drang Straßenlärm.

      Maigret nahm den Zettel entgegen, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn.

      »Was macht sie für einen Eindruck?«

      »Eine sehr höfliche alte Dame, vielleicht etwas schüchtern. Sie hat mich gebeten, alles zu tun, damit Sie sie empfangen.«

      Mit einer festen und regelmäßigen Schrift hatte sie in die erste gepunktete Zeile ihren Namen eingetragen:

      Madame Antoine de Caramé

      Darunter eine Adresse:

      Quai de la Mégisserie 8

      Und als Grund ihres Besuchs:

      Äußerst wichtige Mitteilung für Kommissar Maigret. Es geht um Leben und Tod.

      Man sah der Schrift an, dass ihre Hand bei diesen Zeilen gezittert hatte; die Buchstaben waren etwas schief. Äußerst wichtige und Kommissar hatte sie unterstrichen. Es geht um Leben und Tod sogar doppelt.

      Maigret zog an seiner Pfeife und murmelte:

      »Eine Verrückte?«

      »Sie wirkt nicht so. Sie ist sehr ruhig.«

      Am Quai des Orfèvres war man Briefe von Verrückten oder Halbverrückten gewohnt. Fast immer waren mehrere Wörter unterstrichen.

      »Sprich du mit ihr, Lapointe. Sonst kommt sie jeden Morgen wieder.«

      Kurz darauf wurde die alte Frau in das kleine Büro am Ende des Flurs geführt. Lapointe war allein, er stand am Fenster.

      »Treten Sie ein, Madame. Setzen Sie sich bitte.«

      Sie musterte ihn neugierig und fragte:

      »Sind Sie sein Sohn?«

      »Wessen Sohn?«

      »Der vom Kommissar.«

      »Nein, Madame. Ich bin Inspektor Lapointe.«

      »Aber Sie sind ja noch ein halbes Kind!«

      »Ich bin siebenundzwanzig.«

      Das

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