Kein Himmel über Berlin?. Thomas Brose
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Die katholische Kirche in Berlin jedenfalls hat – entgegen mancher gegenteiliger Prophezeiung – alle politischen Systeme überlebt, ja sie wächst – wenn auch durch nationale wie internationale Zuwanderung. Und ich habe nicht wenige getroffen, die ihre „ererbte“ katholische Sozialisation erst in dieser Stadt wirklich reflektieren mussten und so zum Glauben (zurück-)gefunden haben.
Aber ebenso muss man sagen: Der Himmel über Berlin ist bewölkt.
Denn tatsächlich gibt es in dieser Stadt Gottvergessenheit und (kämpferischen) Atheismus. Es gibt religiöse Blindheit, Interessenlosigkeit und religiösen Analphabetismus. Es gibt Heidentum und Heidenangst. Und es gibt eine besinnungslose Aktivität, die versucht, die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu überspielen.
Nicht wenigen gilt Berlin zudem als „Hauptstadt des Okkultismus und der Esoterik“, in der sich viele in einer Supermarktmentalität ihre persönliche Religion aus unterschiedlichen Religionen oder Pseudoreligionen patchworken. Möglichkeiten dafür gibt es hierzulande genug.
Einer christlichen Kirche jedenfalls gehört nur noch etwa jeder dritte Berliner an – mit absteigender Tendenz. Und mancherorts ist der christliche Glaube müde geworden. Von einer heiteren Wetterlage kann also kaum gesprochen werden.
Aus all dem Gesagten folgt deshalb für mich:
Der Himmel über Berlin muss offen gehalten und auch „geerdet“ werden – um der Menschen willen.
Dazu bedarf es einer Kirche, die im Leben der Stadt präsent ist, einer Kirche, die sich zu Wort und zu Tat meldet, gelegen oder ungelegen.
Dazu braucht es Menschen, die der christlichen Botschaft ein authentisches Gesicht geben, Menschen wie Carl Sonnenschein und Romano Guardini, wie Bernhard Lichtenberg und Dietrich Bonhoeffer, wie Maximilian Kaller und Alfred Bengsch, Menschen, die ihren Glauben leben.
Und schließlich braucht es eine „Theologie der Stadt“, die „geerdet“ ist, d. h. eine Theologie, die nicht Wort oder Idee bleibt, sondern Fleisch wird, verständlich und greifbar auch noch und gerade für eine urbane Glaubenslosigkeit.
Eben für eine solche Theologie will der Verfasser werben.
Den Himmel über Berlin offen zu halten, bleibt somit Aufgabe für Gegenwart und Zukunft.
Das Buch von Thomas Brose kann dafür Hilfestellung leisten.
Vorwort
Dass ich eines Tages dieses Buch schreiben werde, habe ich gehofft – seitdem ich die Mauer das erste Mal überwunden habe: am 9. November 1989. Davor war es für mich zwar möglich, vom Ostteil Berlins nach Sofia oder Bukarest zu reisen, aber undenkbar, die andere „Halbstadt“ zu besuchen – und plötzlich genügte eine einfache S-Bahn-Fahrt, um vom „Tränenpalast“ an der Friedrichstraße zum Bahnhof Zoo zu gelangen. Die Friedliche Revolution hat Europa und die Welt verändert – aber nirgendwo radikaler als in Berlin.
Seitdem ist die deutsche Metropole dabei, ihre alte Schwerkraft wiederzuerlangen und erneut Weltstadt zu werden. Wie nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt die Frage nach Religion und Urbanität so herausragende Bedeutung. Dieser Band hat deshalb ein großes Thema: Er handelt von Babel und Bibel, genauer von der Möglichkeit, eine Theologie für Berlin zu entwickeln und damit der postsäkularen Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Wie also sind Glaube, Gott und Großstadtleben verbunden?
Dieses Buch brauchte Zeit zum Wachsen: Wenn ich unterwegs war, habe ich Gedanken auf Zetteln, Zeitungsrändern oder Buchseiten notiert. Der Text entwickelte sich dann weiter, indem ich mit Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen aus Theologie, Philosophie, Geschichte, Religions- und Kulturwissenschaft darüber diskutiert habe. Viele waren daran beteiligt, ein neues Forschungsfeld zu erkunden. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.
Mein Dank gilt in besonderer Weise dem Berliner Weihbischof, Dr. Matthias Heinrich, sowie der Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die diesen Band durch ein Wort „Zum Geleit“ und ein Nachwort gewürdigt und bereichert haben; ich sehe darin einen ermutigenden Ausdruck katholischer Weite.
Was vor fünfundzwanzig Jahren mit einer Buchidee zum Himmel über Berlin begann, hat der Verlag Butzon & Bercker mit Berthold Weckmann aufgegriffen und in feste Form gegossen. Auf zugewandte Weise wurde ich von Christine Hober zum Weiterschreiben ermutigt; durch das kluge Lektorat von Bruno Kern hat das Buch den Weg zum Publikum gefunden. Ihnen allen sei herzlich gedankt.
Berlin, am Fest der hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), 9. August 2014
Thomas Brose
Einleitung: Stadt ohne Gott?
Uralt ist die Vorstellung von der Existenz heiliger Orte. Die Metropole Berlin scheint heute für viele – in Negation dieser wirkmächtigen Vorstellung – ein ganz und gar unheiliger Platz zu sein: eine Stadt ohne Gott. „In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang / Versehen mit jedem Sterbesakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.“ Der fortschrittsgläubige Bertolt Brecht (1898 – 1956), der im Gedicht Vom armen B. B. die urbane Welt der 1920er-Jahre besingt, hat Anteil daran, dass die moderne Großstadt unter Gläubigen nicht gerade den besten Ruf genießt, sondern als religionszerstörend gilt. Auf der anderen Seite der politischen Skala verklärt Oswald Spengler (1880 – 1936) das Landleben zur beschaulichen Idylle. Der Untergangsprophet lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass Berlin-Babylon mit seiner Massenkultur, mit „Kino, Expressionismus und Boxkämpfen“ längst seinem Ende entgegentaumelt.
Dabei sind Glaube, Gott und Großstadtleben, das Säkulare und das Sakrale, historisch auf engste Weise miteinander verknüpft. Große mittelalterliche Städte mit hohen Einwohnerzahlen besitzen ein klar definiertes Zentrum. Die Grundrisse von Paris (100.000), Köln (50.000), Magdeburg (30.000), Straßburg (20.000) oder Erfurt (20.000) stimmen darin überein, dass große Gotteshäuser ihren urbanen Mittelpunkt bilden. In der Vormoderne ist die Affinität von Christsein und Stadt deutlich sichtbar. Denn dort war „die Mitte genau markiert, präzise und sorgfältig gestaltet“, wie der Soziologe Richard Sennett die mittelalterliche Architektur „liest“.1 Zwischen religiöser Sphäre und Alltagsleben bestand eine geradezu osmotische Verbindung. Schließlich führen alle Wege nach Rom, in die Ewige Stadt, wo der Papst residiert und seinen Segen spendet: „Urbi et Orbi“, der Stadt und dem Erdkreis.
Großstadt = Selbstentfremdung = Gottlosigkeit? Sind die modernen Metropolen mit ihren Lebensrhythmen überhaupt dafür geeignet, ihren Bewohnern ein Zuhause zu geben? Brauchen Menschen die Nähe zur Natur, um Sinn fürs Emotionale, Gefühlvolle und Spirituelle zu entwickeln? Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich, angeregt von Edmund Husserl, Max Scheler und Martin Heidegger, auf den Weg gemacht, die Großstadt in ihren vielfältigen Erscheinungsformen – etwa in der Großstadtliteratur – zu begreifen. Dieser Ansatz einer existenziellen Phänomenologie ist prägend geworden für die hier vorgelegten Überlegungen.
Also vielleicht doch lieber ein Exodus aufs Land? Ist die Großstadt tatsächlich eine Stadt ohne Gott, wie der Theologe Harvey Cox (geb. 1929) mit seinem sprichwörtlich gewordenen Buchtitel nahelegt? Der