Kein Himmel über Berlin?. Thomas Brose
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Dass das Christentum nicht an einen bestimmten Kulturkreis gebunden sei, davon ist Karl Rahner (1904 – 1984) überzeugt. Nach der anfänglichen Periode (1) eines judenchristlichen Glaubensverständnisses und der ihr folgenden Phase (2) hellenistisch-westlich-abendländischer Imprägnierung müsse sich der christliche Glaube nach zwei Jahrtausenden (3) dafür öffnen, sich weltweit zu inkulturieren. Weil der Mensch auf Glauben angelegt ist, erweist sich auch die Großstadt als genuine Stätte der Transzendenz und als Ort, an dem das Wort „Gott“ zum Vokabular lebendiger Sprache gehört. Der Theologe und Religionsphilosoph formuliert deshalb prägnant: Eigentlich existiert der Homo sapiens nur da ganz als Mensch, wo er das Wort „Gott“ in Freiheit aussprechen kann. Eine Anthropologie ohne Gottesvorstellung, so Rahner, stehe dagegen in Gefahr, das spezifisch Menschliche aufzugeben. Ihr drohe die Zerstörung des Humanen durch die „Rückkreuzung zum findigen Tier“3. Ein Zweites ist jedoch – gerade im Berliner Kontext – mit Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini hinzuzusetzen: Theologie und Kirche stehen vor der Herausforderung, von Gott nicht in einer Weise zu reden, die ihren historischen Ort vor der Emanzipation des modernen Menschen, vor seinem Großstädtisch-Werden, ansetzt. Damit wird nicht allgemeinem Libertinismus oder autonomer Moral das Wort geredet. Im Gegenteil. Es geht vielmehr darum, theologisch zu begreifen, welches Glaubenspotenzial in den vorher gebundenen, jetzt freigesetzten Kräften des Homo sapiens liegt.
Berlin – Stadt und Kirche: Das ist ein packendes Phänomen. Als die Metropole gerade dabei war, sich ihre Weltstadtsporen zu verdienen, veröffentlichte Georg Simmel (1858 – 1918) im Jahr 1903 seinen klassisch geworden Grundlagentext: Die Großstädte und das Geistesleben. Damit avancierte der Berliner Kulturphilosoph zum Begründer einer weltweilt neuen Wissenschaftsrichtung: der Stadtsoziologie. Kaum eine Studie über das Wesen moderner Urbanisierung verzichtet bis heute darauf, diesen Text, der großstädtisches Leben auf seine gesellschaftlich-anthropologischen Folgen hin bedenkt und bei Großstädtern eine mächtige „Steigerung des Nervenlebens“ diagnostiziert, als Referenz zu zitieren. Simmels Analysen, die er mitten im Zentrum der sich neu entfaltenden Lebensform Großstadt, in der Berliner Friedrichstraße, entwickelte, bleiben mit den Themen rationale Verstandestätigkeit, Geldwirtschaft, Marktorientierung der Produktion sowie private Verfügung über städtischen Boden aktuell und zukunftsweisend. „Über seinem Geburtshause (an der Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße) flammte nicht, wie über Betlehems Krippe, der Frieden verheißende Weihestern. Nein! Schreiende Lichtreklamen prahlten von einer Schmutzwelt großstädtischer Lustorgien. Bahnen rasselten! Omnibusse keuchten vorüber. Und die Geschäftswagen stauten sich in den vier einander kreuzenden Straßenzügen.“4 – Wie die Ankunft des messianischen Kindes hat Theodor Lessing die Geburt seines akademischen Lehrers geschildert.
Als Wissenschaftler nähert sich Simmel den neuen sozialen Phänomenen nüchtern und vorurteilslos. Entgegen allen „kulturpessimistischen Vorbehalten seiner Zeitgenossen“ führt das Großstädtische für ihn „nicht zum Untergang der Zivilisation, sondern zu deren Weiterentwicklung!“5 Simmel diagnostiziert jedoch die Herausbildung einer spezifischen Individualität des Städters, die sich durch eine „Steigerung des Nervenlebens“ auszeichnet – ein Echo davon ist bei Kurt Tucholsky nachzulesen. „Noch brausten und dröhnten in ihnen die Geräusche der großen Stadt, der Straßenbahnen, Gespräche waren noch nicht verhallt, der Lärm der Herfahrt […], der Lärm ihres täglichen Lebens, den sie nicht mehr hörten, den die Nerven aber doch zu überwinden hatten, der eine bestimmte Menge Lebensenergie wegnahm, ohne dass man es merkte“, schreibt Tucholsky 1912 in seinem Roman Rheinsberg. „Aber hier war es nun still, die Ruhe wirkte lähmend, wie wenn ein regelmäßiges, langgewohntes Geräusch plötzlich abgestellt wird. Lange sprachen sie nicht, ließen sich beruhigen von den schattigen Wegen der stillen Fläche des Sees, den Bäumen […]. Wie alle Großstädter bewunderten sie maßlos einen einfachen Strauch, überschätzten seine Schönheit und, ohne das Praktische aller sie umgebenden ländlichen Verhältnisse zu ahnen, sahen sie die Dinge vielleicht ebenso einseitig an wie der Bauer – nur von der anderen Seite.“6 Das Großstadtleben beruht nach Simmel auf Machbarkeit, Schnelligkeit und Massenhaftigkeit. Aufgabe einer zeitgemäßen Theologie der Großstadt wäre es demnach auch, die „Schönheit des Gemachten“, die „Gutheit des Schnellen“ und die „Wahrheit des Massenhaften“7 aufzuspüren und zu ergründen.
Wie „Christ und Stadt“ zusammenpassen, ist wesentlicher Inhalt dieses Buches. Damit sich Christsein in einer urbanen Zukunft, die längst begonnen hat, weiter als segensreich für die humanitas des Menschen erweist, ist es entscheidend, dass Glaube und Kirche im religiösen Feld der Cities, der Riesenstädte und Agglomerationen anwesend sind – wie zu den Anfangszeiten des Christentums in Jerusalem, Antiochia, Athen und Rom. Heute lauten die Namen Tokio, Mumbai, Delhi oder Mexiko-Stadt. In den neuen Stadt-Staaten der Welt geht es um grundlegende Probleme der einen Menschheit: Wie gelingt Nachbarschaft von Kulturen und Religionen? Wie glücken Verständigung, Friede und Inkulturation des Christentums in der Lebenswelt Großstadt? Wie erhält der autonome, freigesetzte Mensch Wegweisung für eine ethisch verantwortliche, solidarische Existenz?
Um diese Fragen zu erörtern, ist die Wirksamkeit von drei großstädtischen Theologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu betrachten: Carl Sonnenschein, Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini. Diese haben – auf exemplarische Weise – durch persönliches Zeugnis und theologische Existenzform das umgesetzt, was ich als BERLNER ANSATZ charakterisiere.
Es war zu keiner Zeit einfach, von Gott zu sprechen. Aber in Berlin scheint es besonders schwer zu sein. Bis zur Zeitenwende von 1989 galt das heutige Erzbistum als „schwierigste Diözese der Welt“. Am Brandenburger Tor kamen sich zwei waffenstarrende Weltsysteme bis auf Ruf- und Hörweite nahe. Was hätte die Welt erwartet, wenn kurz nach dem Mauerbau am regnerischen Abend des 27. Oktober 1961 wirklich Schüsse gefallen wären? Nach sechs Tagen, in denen die Stimmung an der innerstädtischen Grenze immer nervöser wurde, standen sich am Checkpoint Charlie plötzlich zehn sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber. Atemlos blickte die Welt in diesem Augenblick auf Berlin. Das gescheiterte Chrustschow-Ultimatum, der Mauerbau und die Kuba-Krise lehrten beide Seiten jedoch, dass weitere Eskalationen in den Abgrund führen würden. Weltpolitisch bewegte das die feindlichen Blöcke mit der Zeit zu einer vorsichtigen Entspannungspolitik im Zeichen von „Wandel durch Annäherung“.
„Wieder in Berlin. Wieder geteilter Himmel und so weiter. Zwei Busse halten vor dem Wahrzeichen der Stadt, in gehörigem Abstand, zwei Führer sprechen dieselbe Sprache und doch nicht dieselbe, zitieren Baedeker oder VEB Brockhaus. Zweimal dreißig Teilnehmer der Stadtrundfahrt staunen hinüber, hinauf, fragen, hantieren mit der Kamera. Klick – klick: der Auslöser. Simultanaktionen. Aber die Erinnerungsfotos zeigen zwei verschiedene Ansichten: auch der rosselenkenden Friedensgöttin [auf dem Brandenburger Tor], die so lange schon – wie lange noch? – vergeblich urbi et orbi ihren Segen erteilt“, so hält Hans Joachim Bonhage 1970 seine Erfahrungen im alten Zentrum der Stadt fest.8
Ohne die zerschnittene Metropole im Brennpunkt der Geschichte hätten sich Politiker in West und Ost, in Washington, Moskau und den beiden Berliner Halbstädten jedenfalls viel Aufregung erspart. Der Kalte Krieg erreichte an der Spree ungeahnte Dimensionen. Aber was wäre aus Deutschland und Europa geworden ohne die geteilte Kapitale? Die Viersektorenstadt war ein ständiger Stein des Anstoßes; beide Blöcke mussten sich immer wieder Neues einfallen lassen, um damit fertig zu werden. In den zwölf Berliner Stadtbezirken, in denen die Westalliierten bestimmten, kamen die ostdeutschen Machthaber nicht zum Zug; „dort fanden ihre Gegner Zuflucht und Unterstützung, dort entwickelte sich allmählich sogar ein Gegenbild zu ihren Vorstellungen, dort war – wohl das Schlimmste – die Alternative zu besichtigen. Was in den Westzonen, später in der Bundesrepublik geschah, kannten die