Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
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Zweitens räumt die herrschende globale (Un-)Ordnung dem Begriff „Gewinn“ oder Profit um jeden Preis den Vorrang ein. Das System ist auf einen kurzfristigen Gewinn fixiert und stellt diesen über langfristige Nachhaltigkeit. Seine Priorität ist der Profit für wenige zulasten der vielen. Oftmals sind die Aktivitäten, die den größten „Profit“ hervorbringen, gleichzeitig auch diejenigen, die die Lebensqualität untergraben. Und umgekehrt werden Tätigkeiten, die das Leben tatsächlich dauerhaft erhalten und fördern, als „unwirtschaftlich“ betrachtet. „Gewinn“ wird nur ausgehend von finanziellen Kategorien definiert. Das Geld wird als „der einzige Maßstab für Wert und Reichtum“ aufgefasst, selbst wenn die Qualität und Vielfalt des Lebens im Zuge der Akkumulation leblosen Kapitals untergraben wird.
Vom Standpunkt der Ökosysteme aus gesehen ist Geld schlicht und einfach eine Abstraktion, die geschaffen wurde, um den Tausch zu erleichtern. Es hat keinen Wert an sich. (Was wäre denn der Wert des Geldes, wenn keine gesunde Nahrung, keine saubere Luft und kein sauberes Wasser mehr übrig wären, die man kaufen könnte?) Lediglich die Gesundheit und Vielfalt des Netzes des Lebens selbst haben einen realen Wert. Tätigkeiten, die dies untergraben – dazu gehört die Zerstörung von Leben um der Kapitalakkumulation willen ‒, sind ein Übel und keineswegs gut. Jede Tätigkeit wird letztlich an ihrem langfristigen, dauerhaften Wert gemessen. Ein kurzfristiger Gewinn auf Kosten eines langfristigen Wohlbefindens ist überhaupt kein Gewinn, ganz im Gegenteil: Er stellt einen Verlust dar. Das Tao aber hegt Wertschätzung für das Leben und schaut auf das, was für die siebte Generation – und darüber hinaus – gut ist.
Drittens sorgt die (Un-)Ordnung des herrschenden Systems dafür, dass sich Macht und Reichtum in den Händen der Konzerne als „Super-Personen“ konzentrieren. Das sind künstliche Gebilde, die sich der Verantwortung gegenüber der umfassenderen Gemeinschaft entziehen, innerhalb derer sie tätig sind. Macht wird grundsätzlich als Herrschaft verstanden und entsprechend ausgeübt. Der Wettbewerb wird als der Motor von Veränderung und Fortschritt betrachtet (auch wenn große Konzerne zugleich versuchen, den Wettbewerb dadurch zu verhindern, dass sie Märkte und Macht monopolisieren).
Vom Standpunkt der Ökosysteme aus betrachtet, dient der Reichtum dann am besten der Gemeinschaft, wenn er so umfassend wie möglich geteilt wird. Die Macht wird so dezentralisiert; in einem gesunden Ökosystem dominiert keine der einzelnen Arten. Es gibt sehr wohl die Dynamik des Wettbewerbs, doch grundlegender als dieser sind das Zusammenwirken und die wechselseitige Abhängigkeit voneinander. Vom Gesichtspunkt der Ökosysteme betrachtet, ist eine Art, die sich über ihre natürlichen Schranken hinaus auszubreiten beginnt, krank und Krebszellen in einem Körper zu vergleichen. Arten, die ihre jeweilige ökologische Nische über vernünftige Grenzen hinaus erweitern, werden zwangsläufig ihre Nahrungsgrundlage aufzehren und so einen Zusammenbruch der Population herbeiführen. Das Tao achtet auf das Gleichgewicht und die wechselseitige Abhängigkeit, die es allen Arten und allen Menschen ermöglicht, in Harmonie miteinander zu leben.
Ökologisch gesehen hat also die (Un-)Ordnung, die unseren Planeten zurzeit beherrscht, nichts Logisches oder Natürliches an sich. Sie befindet sich ganz und gar nicht mit dem Tao im Einklang. In ähnlicher Weise scheint das herrschende System auch unter dem Gesichtspunkt einer menschlichen Ethik oder menschlicher Werte irrational zu sein. David Korten (1995) fasst einige der Grundannahmen über das Verhalten der Menschen zusammen, die in der derzeit herrschenden Ideologie enthalten sind:
1 1. Menschen werden grundsätzlich von Gier und Eigeninteresse angetrieben, die sich insbesondere im Wunsch nach finanziellem Gewinn ausdrücken.
2 2. Der Fortschritt und der Wohlstand des Menschen werden am besten am Maßstab wachsenden Konsums gemessen. Das bedeutet, dass wir unser Menschsein im Erwerbsstreben verwirklichen.
3 3. Konkurrenzverhalten (und damit der Wunsch, andere zu beherrschen) ist für die Gesellschaft vorteilhafter als Kooperation.
4 4. Die Tätigkeiten, welche den größten finanziellen Ertrag bringen, sind für die Gesellschaft – und die umfassendere Gemeinschaft des Lebens als ganzer – am nützlichsten. Gier und Erwerbsstreben werden letztlich zu einer optimalen Welt führen. (Korten 1995, 70–71)
In dieser deutlichen und unverhohlenen Form würden in der Tat nur wenige Menschen diesen Grundannahmen zustimmen. Sie stehen bestimmt im Widerspruch zu fast jeder Religion und Philosophie innerhalb der Tradition der Menschheit. Das Tao Te King etwa hält fest:
„Diejenigen, die erkennen, dass sie genug haben,
sind wirklich reich.“ (§ 53)
Selbst Adam Smith, der gemeinhin als der Leitstern für Kapitalismus und „freie Marktwirtschaft“ gilt, hätte dieser Karikatur eines Wertesystems heftig widersprochen. Smith hielt Sympathie (oder Mitleid), und keineswegs Wettbewerb oder Gier für die wesentliche Eigenschaft der Menschheit. Tugend umfasst seiner Definition zufolge drei Elemente: Anstand, Klugheit (ein berechtigtes Streben nach Eigeninteresse) und Wohltätigkeit (das Glück anderer befördern) (Saul 1995, 159).
Eine neue Perspektive einnehmen
Wie können wir aus diesem verzerrten Koordinatensystem ausbrechen, das unsere Werte in Antiwerte verkehrt? Und wie können wir praktisch den Übergang von unserem System, das auf Chrematistik, Monokultur und Herrschaft beruht, zu einer oikonomia schaffen, das heißt einer Art, sich um den Haushalt der Erde, unserer Heimat, zu kümmern? Wie kann es uns gelingen, eine Welt zu schaffen, in der die Menschheit innerhalb der ökologischen Schranken des Planeten lebt und gleichzeitig die ungeheuren Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich beseitigt?
Wenn wir uns diese Fragen stellen, ist es hilfreich, sich darauf zu besinnen, dass die herrschende globale (Un-)Ordnung in keinerlei Hinsicht völlig den Sieg errungen hat. Immer noch gibt es auf der Welt eine große kulturelle Vielfalt. Und es gibt überall auf der Welt eine Menge Widerstandsnester gegen die gleichmacherischen Trends. Es gibt sie, und sie wehren sich nach wie vor. Das gilt in besonderer Weise für diejenigen, die vom herrschenden System am meisten ausgegrenzt und unterdrückt werden: die Frauen, indigene Völker und Menschen, die innerhalb von Subsistenzwirtschaften leben. Doch selbst für Bereiche nahe am „Zentrum“ der herrschenden Macht gilt dies. Allenthalben gibt es Gemeinschaften, die nach Alternativen zur sich weltweit durchsetzenden Wirtschaft und Kultur suchen. Überall bilden sich Bewegungen heraus, die sich der Durchsetzung des Hegemonialsystems widersetzen und eine neue Ordnung auf der Grundlage von Gleichheit, Gerechtigkeit, Stärkung der eigenen Fähigkeiten und ökologischer Gesundheit schaffen wollen. Überall gibt es Menschen und Organisationen, die eine innovative Politik und schöpferische Technologien entwerfen. Nichts an der derzeitigen (Un-)Ordnung ist unvermeidlich: Wir können immer noch einen anderen Weg einschlagen, einen Weg, der uns zur Großen Wende führt, und in der Tat entschließen sich viele Menschen genau dazu.
Korten zufolge haben wir die Wahl zwischen dem, was er „Imperium“ nennt – das derzeit herrschende weltweite Herrschaftssystem oder das, was Macy und Brown als die „Industrielle Wachstumsgesellschaft“ bezeichnen ‒, und der Erdgemeinschaft, das heißt einer Ordnung auf der Grundlage der Prinzipien einer nachhaltigen Gemeinschaft, die für unsere Heimat Sorge trägt, eine wirkliche oikonomia. Der Gegensatz hinsichtlich der Grundannahmen und Werte zwischen den beiden Alternativen kann folgendermaßen (in Anlehnung an Korten 2006, 32) dargestellt werden:
Imperium (Industrielle Wachstumsgesellschaft) | Erdgemeinschaft (Oikonomia) |
Das Leben ist feindselig und von Konkurrenz geprägt | Das Leben ist von gegenseitiger Unterstützung und Kooperation geprägt |
Die Menschen haben Defekte und sind gefährlich | Die Menschen haben viele Möglichkeiten |
Ordnung durch Hierarchie der Beherrschung | Ordnung durch Partnerschaft |
Bewähre dich im Konkurrenzkampf oder stirb | Kooperiere und lebe |
Liebe die Macht | Liebe
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