Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
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3 Im Verlauf dieses Buches werden wir oftmals den Ausdruck „Norden“ (oder der „globale Norden“) benutzen, um damit die überentwickelten Gesellschaften mit einem hohen Konsumniveau anzusprechen, die vorwiegend im Norden zu finden sind, und „Süden“ (bzw. „globaler Süden“) meint dann entsprechend die armgemachten Gesellschaften, wie sie vorwiegend im Süden zu finden sind, besonders in den tropischen und subtropischen Breiten des Globus.
1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben
Wenn die Besten unter denen,
die nach Weisheit streben, vom Tao hören,
dann geben sie sich sofort Mühe, es zu verwirklichen.
Wenn durchschnittliche Weisheitssucher vom Tao hören,
dann folgen sie ihm zuweilen, und zuweilen vergessen sie es wieder.
Wenn Weisheitssucher ohne Verstand vom Tao hören,
dann lachen sie lauthals.
Lachten sie nicht,
dann wäre es nicht das Tao.
Darum heißt es:
Der Weg im Licht erscheint dunkel,
der Pfad, der nach vorn führt, scheint rückwärts zu laufen,
der gerade Weg scheint krumm zu sein,
die größte Kraft erscheint schwach,
die echteste Reinheit scheint beschmutzt,
wahrer Überfluss scheint nicht genug zu sein,
auf echte Standhaftigkeit scheint kein Verlass zu sein.
Der weiteste Raum kann nicht ausgefüllt werden,
das größte Talent braucht lange, um zu reifen,
der höchste Ton ist schwer zu hören,
die vollkommene Gestalt kann nicht leibhaftig werden.
Das Tao ist nirgends zu finden.
Und doch ernährt es alle Dinge und führt sie ihrer Erfüllung zu.
(Tao Te King § 41)
Heute stehen wir wahrscheinlich vor der wichtigsten Entscheidung in der Geschichte der Menschheit und wahrhaftig auch der Erde selbst. Die sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen einer wachsenden Armut und einer sich beschleunigenden Verschlechterung der ökologischen Bedingungen verursachen einen heftigen Strudel der Verzweiflung und Zerstörung, aus dem zu entrinnen zunehmend schwerer wird. Wenn es uns nicht gelingt, energisch, rasch und weise genug zu handeln, dann werden wir uns bald zu einer Zukunft verdammt sehen, in der die Möglichkeiten für ein sinnvolles, hoffnungserfülltes und schönes Leben in starkem Maß dahingeschwunden sind.
Für die Mehrzahl der Menschen, die sich an den Rändern der Weltwirtschaft abmühen, scheint sich das Leben bereits jetzt am Rand des Absturzes zu bewegen. Jedes Jahr nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich noch stärker zu. In einer Welt, in der die Illusionen einer Konsumgesellschaft feilgeboten werden, müssen die meisten einen harten Kampf bestehen, nur um das erforderliche Minimum zum Überleben zu bekommen. Der Traum von einem einfachen, aber dennoch würdevollen Leben bleibt dauerhaft kaum erreichbar. Für viele wird das Leben Jahr für Jahr schwieriger.
Die anderen Lebewesen, die diesen Planeten mit der Menschheit teilen, machen sogar noch eine schwerere Krise durch. Da sich die Menschen einen immer größeren Teil der Gaben der Erde angeeignet haben, bleibt für andere Lebensformen immer weniger übrig. Da wir die Luft, das Wasser und das Land mit Chemikalien und Abfall verpesten, wird das komplexe System, welches das Gewebe des Lebens aufrecht erhält, zunehmend unterminiert. Viele Arten verschwinden für immer. Unser Planet erlebt in der Tat eine der größten Massenvernichtungen aller Zeiten.
Natürlich gibt es Zeichen der Hoffnung. Unzählige einzelne Personen und Organisationen setzen sich mit Fantasie und Mut für eine Veränderung ein. Einige haben Bewegungen ins Leben gerufen, die heute weltweit aktiv sind. Ihre Anstrengungen bewirken sehr konkrete Veränderungen auf lokaler Ebene in der ganzen Welt. Gleichzeitig ermöglichen neue Kommunikationsmittel den Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen. Die Möglichkeiten, Weisheit und Erkenntnisse miteinander auszutauschen, sind deshalb wahrscheinlich größer als jemals zuvor. Viele Menschen haben ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein von ihren grundlegenden Rechten und verteidigen diese aktiver. Auf Gebieten wie Gesundheitsvorsorge und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wurden echte Fortschritte erzielt. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein hinsichtlich der ökologischen Problematik, und viele Gemeinden bemühen sich, in Harmonie mit der Natur und nicht gegen sie zu arbeiten. All diese Trends eröffnen neue Möglichkeiten für die Erneuerung der Welt.
Doch das sind bloß kleine Lichtblicke inmitten der Dunkelheit. Immer noch gibt es wenige Anzeichen für ein effektives, abgestimmtes Handeln in einer solchen Größenordnung, dass es in der Lage wäre, die zunehmende Armut und den ökologischen Niedergang tatsächlich zu stoppen oder gar einen Prozess in Gang zu setzen, um die Gemeinschaft des Planeten wieder gesunden zu lassen. Institutionen auf Weltebene, insbesondere Regierungen und Konzerne, beziehen in ihr Handeln die dringende Notwendigkeit nach wie vor nicht ein, die Art und Weise, wie wir in dieser Welt leben, von Grund auf zu ändern. Im Gegenteil: Die Grundideen, Motive, Gewohnheiten und politischen Strategien, die so viel Verwüstung und Ungerechtigkeit verursacht haben, beherrschen nach wie vor unser politisches und ökonomisches System. Michail Gorbatschow stellte im Jahr 2001 fest:
„Obwohl es eine wachsende Zahl von mutigen Initiativen von Verantwortlichen in Regierungen und Unternehmen gibt, die Umwelt zu schützen, sehe ich nicht, dass eine politische Führung und der Wille entstehen, Risiken in der Größenordnung einzugehen, die notwendig wäre, um der gegenwärtige Situation gerecht zu werden. Obwohl es eine wachsende Zahl von Menschen und Organisationen gibt, die sich der Bewusstseinsbildung widmen und Änderungen in der Art und Weise, wie wir die Natur behandeln, herbeiführen wollen, erkenne ich immer noch keine klare Vision und keine gemeinsam abgestimmte Vorgehensweise, die die Menschheit rechtzeitig zu einer Kurskorrektur inspirieren könnten.“ (Gorbachev 2001,4)
Joanna Macy und Molly Brown (1998) bezeichnen die zentrale Herausforderung unserer Zeit, nämlich den Wechsel von industriellem Wachstum hin zu einer lebenerhaltenden Zivilisation, als die „Große Wende“. Leider haben wir keine Gewähr dafür, dass wir diese wesentliche Veränderung rechtzeitig hinbekommen, um die Auflösung des sorgfältig geknüpften Netzes zu verhindern, welches das komplexe Leben trägt und erhält. Sollten wir uns als unfähig erweisen, eine solche Veränderung zu bewerkstelligen, dann nicht, weil es an der entsprechenden Technik, an genügend Information oder etwa an schöpferischen Alternativen mangelt, sondern vielmehr, weil es an politischem Willen fehlt und weil die uns drohenden Gefahren so schwer zu ertragen sind, dass sie viele von uns aus Angst schlicht aus ihrem Bewusstsein verbannen.
Wir sind dennoch fest davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kreislauf von Verzweiflung und Zerstörung durchbrochen werden kann, dass wir immer noch die Chance haben, effektiv zu handeln und den Kurs zu ändern. Es ist noch Zeit, die Große Wende einzuleiten und unseren Planeten zu heilen. In diesem Buch suchen wir nach einem Weg zur Veränderung, zu einem Wandel, der uns zu einer neuen Weise, in der Welt zu sein, herausfordert – einer Weise des In-der-Welt-Seins, die gerechte und harmonische Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft und innerhalb der