Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
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– Die Menschen verbrauchen bzw. verschwenden zurzeit 40 % aller Energie, die für alle auf dem Land lebenden Lebewesen auf der Erde zur Verfügung steht (dies wird als die Nettoprimärproduktion, NPP, des Planeten bezeichnet). Und wenn wir fortfahren wie bisher, werden wir innerhalb der nächsten acht kosmischen Sekunden (das sind fünfunddreißig irdische Jahre) 80 % in Anspruch nehmen und nur 20 % allen anderen Lebewesen übriglassen.
So viel Zerstörung in so kurzer Zeit! Und wofür? Die „Wohltaten“ dieses Prozesses kamen nur einem sehr kleinen Teil der Menschheit zugute: Die reichsten 20 % der Weltbevölkerung verdienen zurzeit etwa zweihundertmal mehr als die ärmsten 20 %.8 Zu Beginn des Jahres 2009 hatten die 793 Milliardäre der Welt zusammen ein Nettovermögen im Wert von 2,4 Billionen US-Dollar (Pitts 2009) – das ist mehr als das jährliche Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. (Zu Beginn des Jahres 2008, bevor die gegenwärtige Wirtschaftskrise einsetzte, gab es 1195 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 4,4 Billionen US-Dollar; das ist etwa doppelt so viel, wie die ärmsten 50 % im Jahr verdienen!) Und wenn man die Einkommen vergleicht, dann erhält das eine Prozent der Reichsten so viel wie die 57 % der ärmeren Weltbevölkerung.9
Unser Planet, das Ergebnis von vier Milliarden Jahren kosmischer Evolutionsgeschichte, wird von einer relativ kleinen Minderheit der Menschheit verschlungen, und selbst diese privilegierte Gruppe kann nicht darauf setzen, dass dieser Ausbeutungsprozess noch lange andauern kann. Es überrascht daher kaum, dass eine Gruppe von sechshundert Wissenschaftlern, darunter mehr als hundert Nobelpreisträger, anlässlich eines Treffens im Jahr 1992 eine „Warnung an die Menschheit“ veröffentlichten:
„Es bleiben nur noch ein oder wenige Jahrzehnte, bevor die Gelegenheit zur Abwendung der Bedrohungen, vor denen wir heute stehen, verloren ist und die Aussichten für die Menschheit enorm abgenommen haben […] Wir brauchen eine neue Ethik ‒ eine neue Bereitschaft zur Einlösung unserer Verantwortung, sorgsam mit uns selbst und der Erde umzugehen. Aus dieser Ethik muss eine große Bewegung entspringen, die widerstrebende Politiker und Regierungen davon überzeugt, die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.“ (Brown 1994, 40)
Inzwischen sind seit dieser Warnung, während wir dies niederschreiben, siebzehn Jahre ins Land gegangen. Auch wenn einige auf Weltebene einflussreiche Persönlichkeiten die Probleme von Armut und ökologischer Zerstörung ernster nehmen, gibt es immer noch keine miteinander abgestimmte Bewegung, um die Energien der Menschheit zu mobilisieren und der bevorstehenden Krise entgegenzutreten. Tatsächlich wird dem sogenannten Krieg gegen den Terrorismus (der weitgehend ein Krieg zur Sicherung der Ölquellen und des „Weiter so wie bisher“ ist) weitaus mehr Energie gewidmet als den Bedrohungen, die das Leben in einem bisher noch nie da gewesenen Ausmaß zerstören.
Das Streben nach Weisheit
Zum ersten Mal in der Entwicklung der Menschheit sind alle größeren Krisen, mit denen wir es zu tun haben – die Zerstörung der Ökosysteme, die bedrückende Armut von Milliarden Menschen aufgrund von Gier und aufgrund von systembedingter Ungerechtigkeit und die weiterhin bestehende Bedrohung durch Militarismus und Krieg – von uns selbst verursacht. Zusammengenommen haben diese Krisen das Potenzial, nicht nur eine bestimmte Kultur oder eine einzelne Region der Welt, sondern die menschliche Zivilisation als ganze und wahrlich auch die Integrität des gesamten Lebensnetzes auf unserem Planeten zu zerstören. Nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die künftigen Generationen der planetarischen Gemeinschaft sind bedroht.
Verständlicherweise erzeugen die Gefahren, denen wir ins Auge sehen, Angst. Es ist wichtig, dass wir beides wahrnehmen: die Situation als solche, und die Gefühle, die sie in uns hervorruft. Wenn wir die der Krise angemessene Dringlichkeit betonen, dann ist es deshalb auch entscheidend, apokalyptische Warnungen zu vermeiden, die nur die Lähmung der Verzweiflung auslösen. Wir müssen uns darauf besinnen: Die Tatsache, dass die Krise von uns verursacht ist, bedeutet gleichzeitig, dass es Hoffnung gibt, sie in sinnvoller Weise zu bewältigen. Tatsächlich haben viele Menschen mit Einsicht und Fantasie hart daran gearbeitet, praktische Alternativen aufzuzeigen, die es der Menschheit ermöglichen könnten, in Würde zu leben, ohne die Gesundheit der Ökosysteme der Erde zu gefährden.
Wir sind davon überzeugt, dass wir über den Großteil der Information und der Kenntnisse verfügen, die wir brauchen, um unsere gegenwärtige Krise zu überwinden. Macy und Brown stellen mit Recht fest:
„Wir können das Leben wählen. Ungeachtet unheilsschwangerer Vorhersagen können wir immer noch handeln, um eine Welt zu erhalten, in der man leben kann. Entscheidend ist es, sich über Folgendes klar zu sein: Wir können unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne das System zu gefährden, das Leben ermöglicht. Wir haben das technische Wissen und die Kommunikationsmittel, um das zu leisten. Wir haben genügend Grips und Ressourcen, um genügend Nahrungsmittel zu erzeugen, eine saubere Luft und sauberes Wasser sicherzustellen und die nötige Energie mithilfe von Sonne, Wind und Biomasse zu erzeugen. Wenn wir nur wollen, dann haben wir die Mittel, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren, Waffensysteme abzubauen und Kriege abzuwenden und in demokratischer Selbstverwaltung jedem eine Stimme zu geben.“ (1998, 1)
Natürlich werden harte Arbeit, aufeinander abgestimmtes gemeinsames Handeln und Organisation erforderlich sein, um diese Alternativen in die Praxis umzusetzen. Doch zu allererst bedürfen wir der Energie, der Vision, des Sensoriums und der Weisheit, die unserem verändernden Handeln den Weg weisen – wir bedürfen eines echten Tao, das zur Befreiung führt. Wir müssen die verschiedenen Dimensionen der globalen Krise und die Kräfte verstehen, die sich vereint haben, um sie zu verewigen. Wir brauchen ein immer tieferes Verständnis der Wirklichkeit selbst, gerade auch davon, welcher Art die Veränderung ist. Und wir müssen unser Gespür schärfen und unser Wahrnehmungsvermögen entwickeln, damit es imstande ist, in schöpferischer und effektiver Weise zu reagieren.
Im Streben nach dieser Art von Weisheit müssen wir zuerst erkennen, dass all die Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, in gewisser Weise als Symptome einer tiefer liegenden kulturellen und spirituellen Krankheit sind, von der die Menschheit befallen ist, insbesondere jene 20 % der Menschen, die den Großteil des Wohlstands der Welt konsumieren. Das veranlasst uns dazu, unsere Kulturen, unsere Werte, unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme und uns selbst genauer zu betrachten. Der Psychologe Roger Walsh bemerkt, dass die Krisen, mit denen wir es zu tun haben, dazu dienen können, „unsere Schutzpanzer abzulegen und uns dabei zu helfen, uns sowohl mit dem wahren Zustand der Welt als auch mit unserer Rolle dabei zu konfrontieren“ (1984, 77). Sie haben das Potenzial, uns zu wirklich tiefgreifenden Veränderungen unserer Lebensweise, unseres Denkens und Handelns, ja tatsächlich auch der Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, hinzuführen.
Krisenzeiten können schöpferische Zeiten sein, Zeiten, in denen neue Visionen und neue Möglichkeiten entstehen. Das chinesische Zeichen für Krise, wei-ji, setzt sich aus den beiden Zeichen für Gefahr und Chance zusammen (sie werden von einem nicht aufzuhaltenden Speer und einem undurchdringbaren Schild repräsentiert). Das ist nicht einfach ein Widerspruch oder ein Paradoxon. Die Gefahr selbst, der wir ins Auge sehen, spornt uns dazu an, tiefer zu sehen, nach Alternativen zu suchen und Chancen zu ergreifen. Unser eigenes Wort Krise kommt vom altgriechischen Verb krinein, was „trennen, unterscheiden“ bedeutet. Damit ist eine Wahl zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten angesprochen. Wenn wir nicht handeln, um die Situation der sich verschlimmernden