Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv. Wiglaf Droste

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Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv - Wiglaf Droste

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später ging ich mit einem gleichaltrigen Nachbarsmädchen auf Entdeckungsreise, wir waren beide neugierig und zeigten uns gegenseitig alles. Dass sie sich nicht die Nägel lackierte, störte mich überhaupt nicht. Aber wann immer ich Frau Richartz im Treppenhaus begegnete und sie von Kopf bis zu den Füßen betrachtete, fuhr es mir gewaltig ein.

      Dann zog meine Familie fort von Bad Oeynhausen, ich dachte nicht mehr an die schöne Nachbarin, aber als ich, viele Jahre später und vom Kind zum jungen Mann herangewachsen, eine schöne Frau mit rot lackierten Fußnägeln im Café sitzen sah, wusste ich schlagartig, dass ich nichts vergessen hatte.

      Bis heute denke ich bei den Worten »rot lackiert« nicht an blöde Faschisten, sondern an etwas Schönes, Aufregendes und noch immer Verheißungsvolles. Und an einen Jungen, dessen Gefühlslage ich heute so beschreiben würde:

      So steht man da, fünfjährig unschuldig,

      in seiner Unterhose einen Steifen,

      und lernt, nicht ohne Seelenschmerz:

      Zum Mann muss man erst reifen.

      Ein Freizeichenton von Vodafone

      »Neiiin! Igitt! Das ist ja ekelhaft!« Die Frau einen halben Meter vor mir auf dem Bürgersteig hält abrupt in der Vorwärtsbewegung inne, starrt ihr Taschentelefon an und zeigt es dann ihrer Begleiterin. »Kuck dir das an! Wollen die mich quälen?« Die beiden bleiben stehen, ich tue es ihnen notgedrungen gleich, sie haben die Kleinelektronik im Blick, und die Besitzerin des Taschentelefons liest laut vor:

      »Lieber Vodafone-Kunde, wir sagen Danke und schenken Ihnen einen Freizeichenton. Einfach nur, weil Sie es sind. Statt des normalen ›Tuut-tuut‹ hören Ihre Anrufer den Song ›Wenn Worte meine Sprache wären‹ von Tim Bendzko.«

      Sie lacht, der Ton ist leicht hektisch. »Überleg mal: Wenn ich das mache, ruft mich doch nie wieder einer an! Dann gratuliert mir wirklich nur noch Vodafone zum Geburtstag!«

      »Stimmt«, sagt ihre Begleiterin nachdenklich. »Wenn du dir diese Peinlichkeit an die Backe klatschen lässt, bist du tot. Dann kannst du auch Fahrstuhl werden oder Kaufhaus, die Muzak ist ja schon dabei.«

      Die Frau mit dem Taschentelefon ist noch immer fassungslos. »Dieses ‚Einfach nur, weil Sie es sind’ ist nicht zu glauben! Für die bin ich gerade mal so exklusiv wie ein Discounter. Und dann dieser Tim Renner oder Wiese oder Bendzko; das ist doch kein Name, das ist ein Urteil. Sowas wie Kevin. Wenn du Tim oder Kevin heißt, dann ist das eine Botschaft: Vielleicht gibt es irgendwo auf diesem Planeten irgendjemanden, der dich liebt. Aber deine Eltern sind es jedenfalls nicht.«

      Sie hat sich gefasst, geht weiter und zeigt auf die Lebensmittelhandlung auf der anderen Straßenseite. »›Wenn Gurken mein Gemüse wären‹ wäre ja ein super Songtitel, den würde ich mir glatt aufs Telefon ziehen«, sagt sie und versenkt die Vodafone-Droh-Drohne in ihrer Manteltasche.

      Ich gehe meiner Wege. Wenn Eier meine Hühner wären, könnten sie gackern? Und umgekehrt? Wenn Hühner meine Eier wären, lachten dann die Hühner? Ehe der Kran dreimal gehäht hat?

      Die Ventilatoren des Nichts kann man nicht an ihren Worten messen, sondern, im Gegenteil, an ihrer Sprache.

      Die Weisheit der Post

      Lag es an der Faszination des Wortes Münzschlitz, dass ich sechs Euro in den Münzschlitz eines Briefmarkenautomaten steckte? Nein, es war Abend und die Filiale der Post geschlossen, und so musste ich, um noch Briefe und Karten zu expedieren, mit den eher hässlichen automatengedruckten Postwertzeichen vorlieb nehmen: 6 x 55 Cent, 6 x 45 Cent, und ab geht die Post.

      Ging sie aber nicht. Zwar behauptete das Display des Automaten zunächst, die Briefmarken würden gedruckt, meldete dann aber erst den Defekt des Druckers und kurz darauf den des ganzen Automaten: Die finale Meldung »Außer Betrieb« beinhaltete auch die Störung der Geld­rückgabefunktion. Die Penunze steckte im Apparat, und was ein richtiger Apparat ist, der rückt nichts raus.

      Doch trotz des Druckerdefektes fiel noch etwas Gedrucktes ins Ausgabefach des Automaten: ein Beleg über sechs eingezahlte Euro, den ich, so stand es darauf geschrieben, in einer Filiale der Post vorlegen könne. Was ich, noch immer beeindruckt von den Geheimnissen der sagenhaften Automatenwelt, anderntags tat.

      Kurz schilderte ich dem Mann am Schalter das Geschehene und legte ihm das Beweismittel vor. »Oh, kompliziert«, stöhnte er auf und wandte sich an eine Kollegin, die ihn aber sogleich an eine weitere Kollegin verwies, die sich mit dieser »schwierigen Sache« auskenne. Diese Kollegin suchte der Mann auch sogleich auf, ich sah sie miteinander sprechen und hörte, wie sie scharf »Aber nur in Briefmarken« sagte.

      Der Postler kehrte zu mir zurück, tippte etwas in die Tastatur seines Computers, griff dann in seine Kasse und legte mir einen Fünf-Euro-Schein und eine Ein-Euro-Münze hin. »Gar nicht drüber nachdenken«, sagte er ohne mich anzusehen und ergänzte: »Da darf man nicht mit Logik drangehn.« Er sprach wohl mehr zu sich selbst. Dann zog er ein Formular aus einer Ablage, sah mich an und fragte in höflichem, fast entschuldigendem Ton: »Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«

      Das hatte ich, kramte das Dokument hervor und sagte: »Die Arbeit müssen Sie sich aber doch bitte gar nicht machen. Ich möchte ja Briefmarken kaufen, genau wie gestern schon.« Er übertrug etwas vom Ausweis auf das Formular, schob es mir hin und bat mich um meine Unterschrift. Ohne zu lesen quittierte ich, bat um Briefmarken, bekam sie ausgehändigt und zahlte mit demselben Geld, das er mir zuvor erstattet hatte.

      Lächelnd steckte ich die Briefmarken in die Innentasche meines Mantels. Der Mann hinter dem Schalter sah mich an und sagte nochmals leise und freundlich: »Einfach nicht drüber nachdenken. Sonst springt man aus dem Fenster.«

      Ich ging. Aus dem Fenster springen, wenn der Raum im Parterre liegt, ist keine große Sache, dachte ich zunächst, aber dieser Sarkasmus verfehlte den Kern; der Mann war kein Angeber gewesen. Seiner Stimme hatte ich anhören können, dass jedes seiner Worte mit eigener Erfahrung bezahlt war: »Einfach nicht drüber nachdenken. Da darf man nicht mit Logik drangehn. Sonst springt man aus dem Fenster.« Es war ein Rezept zum Überleben in einer Welt, die auch heißen könnte: Irrsinn, Irrsinn & Irrsinn, Rechtsanwälte.

      Ich frankierte meine Post, warf sie in den Briefkasten und ging zur Sparkasse, den nächsten Automatenabenteuern entgegen.

      »Fit für den Winter«?

      Eine Plakatreklame fragt den Betrachter: »Ist Ihr Haus fit für den Winter?« Ich kenne die Antwort nicht, besitze ich doch kein Haus und werde mir, mit Rilke, jetzt auch keines mehr bauen. Selbst aber wenn ein Haus mein Eigen wäre, könnte ich nicht sagen, ob es »fit« ist und wenn ja, für was.

      Nicht nur für Häuser gilt die Winterfitnesspflicht. »Ist Ihr Auto fit für den Winter?«, wird der Autobesitzer gefragt, denn der Sinn allen Besitzes besteht darin, sich immerzu um ihn zu sorgen. Und so muss selbst ein mit Füßen getretener Teppich »fit für den Winter« sein oder werden. Was nicht »fit für den Winter« ist, das wird »fit für den Winter« gemacht, so verlangt es die Winterhilfswerksordnung.

      Das ist der Grund dafür, dass man so viele keuchende Teppiche, japsende Autos und schwitzende Häuser durch die Straßen walken, joggen und biken sieht, als wären sie ihre eigenen Eigentümer. Wie diese checken auch Teppich, Auto und Haus regelmäßig im Fitness-Studio ein, als »Power-Payback-Kunden« versteht sich. Anschließend geht es noch ein bisschen zu »Wellness & Beauty« und in den Salon »Vorher – Nachhair«, zur »Hair Affair« zwischen den Top-Haircuttern »Buddhar«, »Haircules« und

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